Es ist paradox: Obwohl die Zahlen der musikpädagogischen Konzerte in Deutschland seit zehn Jahren durch die Decke gehen, während die Anzahl klassischer Kammerkonzerte und der großen Sinfoniekonzerte auf gleichem Niveau verharrt, berichten nur wenige Medien über diese mutmachende Entwicklung. Dabei besteht kein Zweifel, dass immer mehr Familien, Kindergärten und Grundschulen sich für klassische Musik, für Jazz und Gesang und die Musikvermittlung interessieren. Einer, der an dem deutschlandweiten Erfolg maßgeblichen Anteil hat, ist Tobias Henn von der Alten Oper Frankfurt. Wie schafft er es, dass seine „Pegasus“-Konzerte für die Kleinsten jedes Jahr aufs Neue innerhalb von 48 Stunden ausverkauft sind?
Check it: Das „Pegasus“-Programm der Alten Oper Frankfurt
- Musikprogramme für Kinder und Jugendliche
- Auf verschiedene Altersgruppen zugeschnitten
- Mitmachen und Ausprobieren
- Musiker gehen auch in Schulen
- „Lehrermangel können wir aber nicht kompensieren“
Wir könnten doppelt so viele Konzerte spielen
Wer Mister Pegasus persönlich gegenübersitzt, erlebt einen Musikpädagogen, der mit sich überaus zufrieden ist. Kann er doch seit seinem Antritt 2012 unter dem damaligen Intendanten Stephan Pauly auf eine einzige große Erfolgsgeschichte zurückblicken: „Das ganz große Ziel ist, dass jedes Kind in Frankfurt nicht nur das Haus der Alten Oper Frankfurt kennt und den schönen Pegasus auf dem Dach (denn der ist ja der Namensgeber für das Programm), sondern auch weiß, was hier drin stattfindet.“ Von Anfang sei sein Ansatz gewesen, „…ein durchgängiges Angebot von 0 bis 21 Jahren bereit zu stellen.“ Henn findet, dass sich aktuell die Musikvermittlung in Europa rasant entwickele. Daher gebe es zurzeit viele Einflüsse, viele junge, innovative Ensembles, neue Konzert- und Vermittlungsangebote.
Den regen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen an anderen Häusern schätze er sehr. „Als ich hier in Frankfurt 2012 unter Stephan Pauly anfing, habe ich mich sehr genau umgehört und der Bereich frühkindliche Bildung im Alter null bis sechs Jahren war überhaupt nicht besetzt. Während der Grundschulbereich schon gut aufgestellt war. Mittlerweile machen wir über 70 Konzerte im Jahr für Null- bis Sechsjährige. Sie heißen Entdeckerkonzerte (null bis drei) und Rabauken (drei bis sechs). Diese zwei Konzertreihen sind jede Saison innerhalb von zwei Tagen komplett ausverkauft. Wir könnten doppelt so viele spielen. Die Hälfte buchen Familien, die andere Hälfte Kitas.“
Kinder, das Publikum von heute
Wer dem studierten Pianisten, Musikpädagogen und Manager eine Weile zuhört, der von 2008 bis 2012 am Salzburger Mozarteum Leiter des Kinder- und Jugendprogramms war und damals die ersten Babykonzerte gemeinsam mit Manuela Widmer vom Salzburger Carl-Orff-Institut initiierte, versteht, warum ihm seine Projekte so erfolgreich aus der Feder fließen. Es ist seine unkonventionelle Sicht auf sein junges Publikum und sein ungeheurer Fleiß, mit der seine Mitarbeiterin Christine Kissel und er ganz allein ein 60 Seiten starkes Programm pro Jahr zusammenstellen: „Meine Diplomarbeit habe ich geschrieben über „Kinder, das Publikum von heute“. Denn mir geht es nicht ums Morgen. Sie sollen jetzt ein schönes Erlebnis haben. Wenn uns das nicht gelingt, dann kommen sie auch morgen nicht wieder,“ meint der 50-Jährige mit den leuchtenden Augen.
Er findet, dass die Kleinsten auch die ehrlichsten Zuschauer des Klassikbetriebes sind. Warum? „Je älter Kinder werden, desto angepasster sind sie an Situationen, Gegebenheiten und Regeln,“ führt er in seinem Büro am Opernplatz in Frankfurt aus. „Wenn einem Kindergartenkind das Konzert nicht gefällt, sind die ersten Anzeichen das unruhige Auf- und Zuziehen der Klettverschlüsse an den Schuhen. Dann wissen wir: Vorsicht, das Konzept ist falsch. Und wenn es ihnen gar nicht gefällt, dann stehen die auf und gehen.“ Der schönste Moment sei für ihn, wenn ihnen die Musik zusage, „dann fliegen die Herzen auf die Bühne. Ich habe Musikerkollegen, die ganz bewusst bei mir die Kinderkonzerte spielen, weil es das ehrlichste Publikum ist, das es gibt und weil die helle Freude und der Enthusiasmus unter den Kleinsten so direkt ist. Wir lieben diese strahlenden Augen und die unverstellte Begeisterung. Das ist ein schöner Lohn.“
Interaktion mit dem Publikum
Wenn man sich die Aufmerksamkeitsspanne eines Babys anschaue, dann seien das zwei bis drei Minuten maximal. „Spielt man diesen Babies ‚Eine kleine Nachtmusik‘ von Mozart komplett vor, dann ist die Reaktion: Spätestens nach drei Minuten ist die Keksdose zehn Mal interessanter. Ich muss als Pädagoge kontinuierlich das Angebot und die Aufmerksamkeit für die Kinder ändern. Ich muss die Interaktionsform anpassen. Bei uns wird viel mitgesungen, mitgetanzt, wir setzen viel auf Licht und auf Interaktion mit dem jungen Publikum.“
So ein typisches Entdeckerkonzert findet im Albert-Mangelsdorff-Foyer statt. In dem querformatigen Raum gibt es keine Stühle, sondern nur einen großen Teppich, auf dem die Eltern mit ihren Kindern Platz nehmen. „Es gibt nur eine Regel“, erklärt Henn: „Die Kinder dürfen die Bühne nicht betreten, da haben die Eltern eine Verantwortungspflicht. Bei diesen Konzerten gehen wir aber ganz oft von der Bühne aus ins Publikum. Es ist ja bereits für uns Erwachsene schön, mal auf Tuchfühlung mit einer Harfe zu gehen. Wie spannend ist das erst für die Kleinsten? Einmal befürchteten wir, das Didgeridoo der Aborigines wäre vielleicht zu laut für die kleinen Ohren – aber zu unserer Überraschung haben sich einige Kinder direkt vor den Ausgang des Didgeridoos gesetzt. Andere sind sehr still, schauen mit großen Augen, machen bei nichts mit – und erst nach zwei bis drei Tagen fangen sie zuhause an, das zu wiederholen, was sie im Konzert erlebt haben. So war es bei meiner eigenen Tochter.“
Konzertanzahl für junges Publikum steigt ständig
Auch das „rollende Klassenzimmer“ in Form des Musikmobils, die LeLoLai-Mitmachkonzerte, Workshop zur Filmmusik für zehn bis 15-Jährige, das Enthusiastenorchester ab 14 Jahren und die Jazzy Christmas-Konzerte sind seit Jahren ein Renner. „Wir arbeiten in diesem Büro nur zu zweit, ich würde noch gern sehr viel mehr machen, aber irgendwann ist unsere manpower erschöpft,“ seufzt der engagierte Musikpädagoe. „Außerdem haben wir jetzt Kapazitätsprobleme, die Disposition ist einfach voll. Wir haben in der Alten Oper im Jahr insgesamt 450 Veranstaltungen bei zehn Monaten Hausöffnung. Da gibt es kaum noch Lücken. Von diesen 450 Veranstaltungen gestalten wir mit unserem Bereich ca. 100.“
Die Konzertanzahl sei in elf Jahren immens gewachsen, berichtet er stolz. Dabei müsse man unterscheiden zwischen Eigen- und Kooperationsveranstaltungen. „2012 gab es 26.000 Besucher, dann ging die Zahl hoch bis 38.000 Besucher vor Corona.“ Mit der Pandemie kam der große Einschnitt. „Bei der letzten Saison 2022/2023 waren wir schon wieder bei 34.000, Tendenz steigend.“ In den zehn Jahren seit Beginn steigerten Henn und sein Team die Zahl von 72 auf 140 Eigenveranstaltungen.
Lehrkräfte werden mit einbezogen
Was ist neu in der Saison 2023/2024? Aus seiner Stimme klingt jede Menge Vorfreude heraus: „Es werden im Mai 2024 erstmal ca. 1500 Kinder auf dem Opernplatz singen. Wichtig dabei sind uns in diesem Zusammenhang die eintägigen Lehrerfortbildungen. Die Lehrkräfte werden von uns vorab eingeladen und bekommen eine Schulung.“ Das Opernplatzsingen knüpfe an das große Primacanta-Projekt der Crespo Foundation an. Primacanta hat das Ziel, jeden Grundschullehrer und jede Grundschullehrerin in Frankfurt als Sänger bzw. Sängerin fortzubilden und Singen als festen Bestandteil im Musikunterricht zu verankern. „Da docken wir an und kooperieren auch, indem wir gezielt die Primacanta-Lehrkräfte ansprechen.“ Die Fortbildung mit den Liedern für das Opernplatzsingen ist im Januar 2024. „Dann haben sie mehrere Monate Zeit, bekannte Kinderlieder des klassischen Kanons in der Schule gut vorzubereiten. Und dann ist es hoffentlich bei strahlendem Sonnenschein am 27.Mai soweit.“
Musiker gehen in die Schulen
Außerdem haben Intendant Markus Fein, Tobias Henn und Christine Kissel in dieser Saison mit der neuen Reihe „Debüt“ das Angebot für die Zehn- bis 18-Jährigen erweitert: An vier Sonntagen in dieser Saison erhalten junge, arrivierte Künstler im Mozart Saal Auftrittsmöglichkeiten. Kinder können zu sehr günstigen Preisen zuhören, Erwachsene zahlen grundsätzlich 20 Euro, Jugendliche 10: „Das Besondere: am Montag nach ihrem Debüt gehen die jungen Künstler in die Aula einer Schule mit uns. Der schönste Augenblick nach dem Konzert dort ist, wenn die Kinder und Jugendliche hinterher Fragen stellen können. Ich spreche gerne davon, dass es mein Job ist, die verflixte vierte Wand zwischen Orchester und Publikum einzureißen. Genau das passiert in diesen Aula-Begegnungen.“ Auch diese neue Reihe werde extrem gut angenommen, verrät Henn.
1200 Besucher beim Kindertag
Ganz neu ist auch die diesjährige Aktion „Ein Zehner bis 25“: Für jedes Konzert der Eigenveranstaltungen der Alten Oper Frankfurt gebe es für Interessierte bis 25 Jahre ein bestimmtes Kontingent für zehn Euro, sogar im Vorverkauf. Einen festen Platz im Stammrepertoire der Musikvermittlung hat der „Kindertag“, der schon ins vierte Jahr geht: An diesem Tag im Mai dürfen Kinder das gesamte Haus erobern. Die annähernd 1200 Gäste – Eltern und Kinder – dürfen sich dann in jedem Saal etwas aussuchen: „Wir haben Babykonzerte, Kindergartenkonzerte, wir haben Grundschulkonzerte, wir haben Instrumente basteln, Instrumente ausprobieren, wir haben einen Trommelworkshop usw.“
Keine Barriere beim Eintrittspreis
Eine Erfolgsstory weist auch die Reihe „Sinfonik hautnah!“ für Fünf- bis Zehnjährige auf, bei der dank der Förderung durch die Stiftung der Polytechnischen Gesellschaft ein ganzes Orchester auf der Bühne steht. Henn, der für sein herausragendes Engagement bei der Musikvermittlung 2017 mit dem Preis der Robert-Schumann-Gesellschaft Frankfurt am Main geehrt wurde, verweist mehrmals im Interview auf die vielen großzügigen und treuen Partner, „dank derer wir trotz Inflation bis jetzt den Eintritt unverändert für 3,00 Euro pro Kind in Gruppen belassen können, begleitende Personen sind dabei immer frei.“ Die Devise im ganzen Haus, vom Intendanten bis zum Pegasus-Leiter lautet: „Es darf keine Barriere beim Eintrittspreis bestehen, es darf allerdings auch nicht umsonst sein. Kunst muss etwas kosten.“
Jazz-Education-Projekt
Nicht zuletzt werde Jazz in den Vermittlungsprogrammen immer wichtiger, so Henn. „Jeder unserer Jazz-Residenzkünstler ist verpflichtet, an einem Jazz-Education-Projekt teilzunehmen. Wir laden Schülerensembles wie die Big Bands der Helmholzschule (24. Januar 2024) und des Heinrich-von-Gagern-Gymnasiums ein, die dann mit Trompeter Till Brönner arbeiten werden. Außerdem gibt es Workshops mit ihm, bei dem man ihn mit Fragen löchern darf und natürlich gemeinsam mit ihm spielt – der Profi gibt dann wichtige Tipps und Anregungen, damit es noch besser wird. Im ersten Jazz-Jahr war das der Residenzkünstler und Posaunist Nils Landgren, danach Jazzpianist Michael Wollny und jetzt eben Brönner.“
Lehrermangel können wir nicht kompensieren
Wie empfindet er die allgemeine Situation der immer mangelhafter werdenden Musikerziehung an den Schulen? „Überall fehlen Lehrkräfte – und Musikfachkräfte umso mehr. Wir können das nicht kompensieren. Wir sind vielmehr für die Kinder das Musik-Highlight des Jahres und tun alles, damit das Konzert für sie ein einmalig schönes ist.“
Mehr über die Musikvermittlung für Kinder des Pegasus-Programms der Alten Oper Frankfurt gibt es auf ihrer Homepage.