Die musikalische Formenlehre hört sich nach ziemlich viel enggestrickter Bürokratie an. Mag sein, aber letztlich ermöglicht sie uns lediglich das bessere Verständnis des Dargebotenen. Tatsächlich ist es verblüffend, welchen Zugang man zu bislang wenig Bekanntem erlangt, wenn man sich damit beschäftigt. Na dann, widmen wir uns der Frage zwischen klerikal und weltlich: „Was ist ein Oratorium“?
Check it: Was ist ein Oratorium – ein Ausflug in die Formenlehre
- Über die Unterschiede zwischen Oper und Oratorium
- Wie die Oratorien bis heute überdauert haben
- Von den berühmtesten Komponisten geprägt
- Als sich plötzlich Mischformen bildeten
- Kantate, Rezitativ, Arie, Arioso und Choral: Puh!
Was ist ein Oratorium? Mitten rein in die Formenlehre
Angelehnt ist das Oratorium ganz klar an die Kirche und die klerikalen Begebenheiten. Der Zusammenhang erklärt sich bereits aus der Wortbedeutung. So steht Oratorium als das lateinische Wort für den „Betsaal“, einem Ort, an dem seit jeher Bibellesungen als auch andächtige Reflexionen abhielt. Und auch die Bezeichnung für den Betsaal ist logischerweise im kirchlichen Kontext entstanden, nämlich in Rom etwa im Jahr 1640 im Zusammenhang mit den geistlichen Übungen der Oratorianer, einer von Philipp Neri gegründeten geistlichen Gemeinschaft von Priestern und Laien. Nur handelte es sich damals zunächst eben um ein Bauwerk. Das Oratorium als Kunstform erblickte ebenfalls Mitte des 17. Jahrhunderts das Licht der musikalischen Welt.
Erzählend dramaturgisch Sänger, Chor und Orchester inszeniert
In der musikalischen Formenlehre ist das Oratorium die erzählend-dramaturgische, mehrteilige Vertonung einer zumeist geistlichen Handlung, wobei die jeweiligen Passagen auf mehrere Personen, den Chor und das Orchester aufgeteilt werden. Tatsächlich sind die Unterschiede zwischen der Oper und dem Oratorium mittlerweile marginal, auf der anderen Seite aber durchaus markant. Während die Oper nach der klassischen Formenlehre in drei Akte gegliedert ist, spricht man beim Oratorium vom einem ersten und einem zweiten Teil, was aber keinesfalls in Stein gemeißelt ist.
Ausgebildet im Barock als Gegenentwurf zu Oper
Tatsächlich bildete sich das Oratorium im Barock als geistlich-epischer Gegenentwurf zur weltlich dramatischen Oper heraus. Im scharfem Kontrast zum operntypischen Ensemble wird beim Oratorium auf szenische Darstellung verzichtet. Vielmehr geht es um den Einsatz eines herausgehobenen Gesangssolisten in der Rolle des biblischen Erzählers mit kommentierendem Chor, reflektierenden Solo-Sängern und dem Orchester.
Weltberühmte Oratorien werden noch heute vielfach aufgeführt
Das bekannteste Oratorium des Komponisten Georg Friedrich Händel, das bis heute weltweit aufgeführt wird, ist „Messiah“, die christliche Heilsgeschichte. Insbesondere die Passage an der ein Chor wiederholt die Worte „Hallelujah“ singt, dürften vielen Musikinteressierten bekannt sein. Ebenso hat auch Johann Sebastian Bach sehr berühmt gewordene Oratorien mit kirchlichen Themen geschrieben, und zwar meistens für den Gottesdienst. So erzählt sein Oster-Oratorium – BWV 249, D-Dur – die Geschichte von der Entdeckung der Auferstehung Jesu. Zum ersten Mal aufgeführt wurde das Werk am Ostersonntag des Jahres 1725.
Sein Weihnachtsoratorium erlebte seine Uraufführung zeitlich und thematisch passend am 25. Dezember 1734. Das Werk besteht aus insgesamt sechs Kantaten mit einer jeweiligen Längen von rund 30 Minuten. Das Oratorium zur heiligen Weihnacht verströmt derart viel Freude und Wärme und ist zumindest in Deutschland das mit Abstand meistaufgeführte klassische Werk in der Advents- und Weihnachtszeit.
Was ist jetzt schon wieder eine Kantate?
Da stellt sich uns natürlich sogleich die Frage, was denn nun wieder eine Kantate ist. Dabei handelt es sich um ein instrumental begleitetes Singstück in Form eines lyrischen Dialogs, eine Vokalkomposition mit mehreren Sätzen für Solostimmen mit Instrumentalbegleitung und Chor. Hervor geht die Kantate wiederum aus der Sonate. Anders als das Oratorium hatte die Kantate zunächst keinen zyklischen Charakter, wobei es über die Jahrzehnte eine immer größere Annäherung gab. Durch ihren Hauptvertreter J. S. Bach wurde die Kantate zum Inbegriff protestantischer Kirchenmusik. Tatsächlich muss die Kantate allerdings nicht immer kirchliche Themen beinhalten.
Und selbstverständlich ist Bach auch keinesfalls der einzige Vertreter dieser Kunstform. Vielmehr gehörten bis ins 20. Jahrhundert auch Komponisten wie Bartók und Strawinsky zu den besonders bekannten Namen, bei denen die Kantate wieder auftauchte. Nicht vergessen sollte man an dieser Stelle, dass die formalen Übergänge durchaus fließend waren und die Komponisten ihre Kreativität kaum mit alemannischer Bürokratie einzwängen ließen. Die Kantate ist etwa zeitgleich mit dem Oratorium um 1620 entstanden, also auch dort kein Unterschied.
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert werden größere Vokalwerke für Sologesang, Chor und Instrumente als Kantate bezeichnet, exakter ausgedrückt als Konzertkantate. Wenn man unbedingt einen wirklichen Unterschied herausarbeiten möchte, dann ist es wohl die Tendenz der Kantate zu einem eher kleineren Format, sowohl was die Besetzung als auch die zeitliche Länge anbelangt. Mit ein bisschen Fantasie könnte man die Kantate auch als die kleiner Form des Oratoriums bezeichnen. Ach ja, die eigentliche Frage lautet ja: Was ist ein Oratorium? Nicht abzuschweifen ist ehrlich gesagt gar nicht so einfach.
Kuriose Worte: Was ist ein Rezitativ?
Aber werden wir konkret musikalisch. Im Oratorium etablierte sich im Laufe der Zeit die Abfolge von Rezitativen und Arien. Puh, und was ist das nun schon wieder? Also klären wir auch diese Bestandteile. Beim Rezitativ erzählt oder spricht ein Erzähler einen Textausschnitt einer Geschichte mit sich weiterentwickelnder Handlung. Dieses Rezitativ wird zwar zumeist gesungen, dennoch orientiert sich die Betonung wie beim Vorlesen – beim Rezitieren – beispielsweise bei einem Fragezeichen am Ende des Satzes angehoben, bei einem Punkt abgesenkt.
Die Musiker folgen der Stimm- bzw. Gesangsführung und ahmen den textlichen Inhalt gewissermaßen nach, wobei seitens des Komponisten und der Instrumentalisten immer darauf geachtet wird, dass die Sprachverständlichkeit erhalten bleibt. Weiteres wichtiges Merkmal des Rezitativs ist, dass der Sologesang in der Regel mit einer Generalbassbegleitung ausgeführt wird, wobei beispielsweise ein Violoncello oder ein Kontrabass die Bassstimme übernehmen und etwa ein Cembalo, die Streicher oder eine Orgel darüber die passenden Akkorde spielt. Das kann in kleiner Besetzung, aber auch mit einem Orchester umgesetzt werden.
Es nimmt kein Ende: Was ist eine Arie?
Erstes Merkmal der Arie ist schon mal, dass sich die Handlung nicht fortentwickelt, sondern stehenbleibt. Hier geht es tatsächlich – auch das gibt es in der Musik – um pure Emotion. Die Gefühle werden nicht nur in die Texte gepackt, stattdessen auch in die Musik. Die Arie ist weniger rezitierend, stattdessen melodiebetont und mit zahlreichen Koloraturen gespickt, was bedeutet, dass eine Silbe über mehrere verzierende Noten gehalten wird. Und schon ahnt man, was oftmals das Ergebnis der Koloraturen ist: Der Text wird schwerer verständlich. Also nicht der dahinterstehende Sinn, sondern im eigentlichen Wortsinn leidet die Sprachverständlichkeit.
Umso höher sind die Anforderungen an die Sänger und Sängerinnen, die Gefühle musikalisch unterstützt auch ohne perfekte Verständlichkeit zu transportieren. Komponisten und Texter greifen aus diesem Grund nicht selten zu einem Trick, der so simpel nachvollziehbar auf der Hand liegt, dass er auch aus Großmutters bewährter Rezeptkiste stammen könnte: Komplette Sätze, Worte oder auch lediglich Silben werden einfach wiederholt. Und schon haben die Zuhörer wieder die Möglichkeit die Passage beim zweiten, dritten Mal oder wann auch immer zu verstehen. Hat doch was; wer kennt das nicht, das man zu Hause immer alles zehnmal sagen muss, bis es ankommt?
Und es wird noch schlimmer: Was ist ein Arioso?
Wenn wir uns der Erklärung der Frage „Was ist ein Oratorium“ nähern, sollte aber auch klar sein, dass die verschiedenen Formen auch gemischt werden. So gibt es beispielsweise das sogenannte Arioso, das als Musikstück für Sologesang und Orchester eine Mischform aus Arie und Rezitativ darstellt. Dabei steht zwar weniger der sprachliche, sondern der musikalische Ausdruck mit hoher Emotionalität im Mittelpunkt. Allerdings werden die Melodien weniger verziert, die Silben werden nicht so lange kolorierend gezogen.
Fehlt noch der Choral, um das Chaos komplett zu machen
Eine weitere Vertonungsform, die speziell oder sogar nahezu ausschließlich im Oratorium genutzt wird, ist der Choral. Irgendwie haben wir den Begriff vermutlich schon alle mal gehört, aber nur die Eingeweihten wissen damit wirklich etwas anzufangen. Im Choral sind die christliche Gemeinde. Also nicht diejenigen, die auf den Zuschauerbänken sitzen, stattdessen der Chor, der die Gemeinde versinnbildlicht.
Der Choral wird im Oratorium vom Chor in einem vierstimmigen Gesang mit einheitlicher Melodieführung vorgetragen. Es gibt keine gegenläufigen Bewegungen oder gesanglichen Dialoge. Alle singen in ihrer jeweiligen Tonlage das Gleiche und jede Silbe bekommt ihren eigenen Ton. Verzierungen unerwünscht. Logischerweise wird die Sprachverständlichkeit dadurch sehr gut. Wenn alle im selben Augenblick dasselbe singen, ohne die Töne kolorierend auszuschmücken, muss man das ja irgendwann verstehen.
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Auch interessant: „Konzertmeister im Orchester – Position in der musikalischen Hierarchie“.
Danke für die Erklärungen.Nicht jeder weiß die Unterschiede exakt zu definieren.Eine große Hilfe für einen Laien um Musik besser zu verstehen.
Man hätte vielleicht auch noch erklären können, welche Funktion die Chöre/Chorsätze in einem Oratorium (auch in der Kantate) haben. Diese gibt es ja, neben den Chorälen, ebenfalls.
Man kann das gern wissen und schön, dass der Text nicht der Form eines Lexikons folgt.
Musiker, insonderheit, Komponisten, Folgen allerdings selten bewusst irgend einer Formenlehre. Auch ist es für den Hörer nicht wichtig, irgend eine Form zu kennen oder gar zu erkennen.
Musik ist eine Sache der Emotion.
Berühmte Komponisten übrigens sagten:
Würde einer beim Hören ihrer Musik irgend eine Form erkennen, würden sie aufhören zu komponieren.