Spielzeitschulen, Klassenkonzerte, Schultouren, Junge Konzerte, Probenbesuche, Coach´n Concert: Die Education-Abteilung des HR-Sinfonierochesters in Frankfurt am Main lässt sich in jeder Saison eine Menge einfallen, um Kinder und Jugendliche für klassische Musik zu begeistern. Phia-Charlotte Jensen, seit anderthalb Jahren federführend in Sachen Musikerziehung beim Hessischen Rundfunk, bekommt leuchtende Augen, wenn sie von dem Moment berichtet, der ihr jedes Mal wieder besonders unter die Haut geht. Es sind die Schultouren quer durch Hessen, die zweimal im Jahr jeweils acht Konzerte umfassen.
Check it: Die Education-Abteilung des HR-Sinfonieorchesters
- Orchester gibt Konzerte in Schul-Sporthallen
- Was bedeutet die Musik für den einzelnen Jugendlichen?
- „Junge Konzerte“ mit Schülermoderatoren
- Spielzeitmotto „Nature and Earth“
- Was kommt am besten an bei Kindern und Jugendlichen?
Dann steigt sie mit 45 Konzertmusikern in den Bus und reist durch ganz Hessen. „Für mich ist immer der beeindruckendste Moment, nachdem sich das Orchester in der Turnhalle aufgebaut hat. An sich schon eine absurde Situation: Ein Profiorchester im feinen Zwirn sitzt plötzlich in einem Raum, in dem sonst Basketball gespielt wird. Ohne, dass viel geredet wird, geht die Musik los. Es ist jedes Mal so cool, dann in die Gesichter der Kinder und Jugendlichen zu blicken – einmalig. Zu sehen, welche Wucht, welche Kraft, welche Macht der erste Klang, der erste Takt auf die Schülerinnen und Schüler hat, die das meistens nicht kennen. Für viele ist das etwas ganz, ganz Neues, denn wir fahren in Schulen, die sonst gar nicht die Möglichkeit haben, klassische Musik zu erleben.“
Meistens sind das Schulen, die in Orten liegen, von denen die nächstgrößere Stadt zu weit entfernt ist und für die es eine zu große logistische Herausforderung bedeuten würde, alle Schüler in Bussen dorthin zu transportieren. „Wir gehen auch viel in Förderschulen. Durch die besonderen Bedürfnisse dieser Schülerinnen und Schüler ist es für sie noch herausfordernder, an einem klassischen Konzert teilzunehmen.“
Die Programminhalte der Schultouren stimmt Jensen mit Orchestermanager Michael Traub ab. Zurzeit ist ein Auszug aus Bizets „Carmen“ dabei, die „Morgenstimmung“ von Edvard Grieg und der Mambo aus Leonhard Bernsteins „West Side Story“, bei dem die Schüler auch mitmachen dürfen. „Auch ein Satz aus der Wassermusik Händels ist dabei, um die barocke Orchesterfarbe zu zeigen.“ Das Besondere: Es wird auch ein Stück mit einer jungen Solistin oder einem jungen Solisten ins Programm genommen, das sich jeweils verändert. „Ausführende sind meist Jungstudenten oder Wettbewerbsgewinner unter 18 Jahren – also jugendliche Exzellenz. Sie freuen sich, mit einem Profiorchester spielen und sich so mit ihrem Stück präsentieren zu können“, so Jensen.
Das HR-Orchester bereist das gesamte Gebiet des Hessischen Rundfunks, allerdings nur zu den Schulen, die sich beworben haben und das sind jedes Mal viel zu viele. „Seit ich den Job mache, lerne ich unser Bundesland gut kennen,“ lächelt die junge Education-Projektleiterin. Sie hat sich ein Motto auf die Fahnen geschrieben, das sie bereits ganz zu Beginn ihres Musikvermittlungsstudiums entdeckte. Ein Zitat des Musikpädagogen Professor Wolfgang Rüdiger: „Es geht mir um ‚die Bedeutung von Musik für das Leben der Menschen in ihrer Zeit‘.“ Für Jensen bedeutet das, sich selbst zu fragen: „Was bedeutet dieses Musikstück für den einzelnen Jugendlichen in seiner aktuellen Lebenssituation? Er oder sie sollte fühlen können: Warum ist das für mich relevant? Das hat nichts Intellektuelles an sich, sondern kann eine physische Erfahrung sein. Mein Ziel ist es, ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen, damit Menschen berührt werden.“
Junge Konzerte
Das Flaggschiff des HR aber sind die Jungen Konzerte in der Alten Oper Frankfurt. „Die Jungen Konzerte sind bereits 70 Jahre alt und wurden von Anfang an zusammen mit dem Jugendamt der Stadt Frankfurt auf die Schiene gesetzt,“ berichtet HR-Musikchef und Orchestermanager Michael Traub. „Natürlich haben sie sich in der Struktur im Laufe dieser langen Zeit verändert. Als ich sie vor zehn Jahren kennenlernte, war die Praxis so, dass wir ein Sinfoniekonzert als Junges Konzert wiederholten, angereichert durch eine Moderation. Logischerweise wurde daraus ein Über-drei-Stunden-Abend. Deshalb haben wir einzelne Stücke herausgelöst und die Konzerte stärker fokussiert.“
Traub berichtet von der sozialen Wandlung des Jungen Publikums: „Ursprünglich sind Kinder der gutbürgerlichen Gesellschaft in die Jungen Konzerte gekommen, was ja auch sehr erfreulich ist. Doch wir wollten alle erreichen. Daher haben wir immer stärker versucht, Kinder aus allen gesellschaftlichen Schichten anzusprechen. Das geht aber nur über die Auswahl der Stücke.“ So hätte der HR 2022/23 damit begonnen, ein eigens auf das junge Publikum zugeschnittenes Konzert zu etablieren, „was sehr gut ankommt.“ Im Vorfeld habe der Beauftragte des Netzwerks „Musik und Schule“ eine Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern gemacht: „Welche Themen interessieren die Jugendlichen besonders? Und wir haben mehrfach Workshops für Lehrkräfte abgehalten, in denen wir ihnen von den Jungen Konzerten erzählt und sie dann um ein Feedback gebeten haben. Was gefällt Euch daran? Was ist das Problem? Warum kommt ihr gerne, was hindert Euch daran? Was können wir programmlich besser machen?“ In der letzten Saison waren das die komplett ausverkauften „Love Stories“, dieses Jahr das sehr erfolgreiche „Planet Earth“-Konzert. „Das nächste Konzert dieser Art in der neuen Saison wird sich zum mit Musik aus Video-Games beschäftigen,“ so Traub.
Phia-Charlotte Jensen, die 2011 ihr Abitur absolvierte, ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Erlebnisse durch die Jungen Konzerte sogar das Berufsbild prägen können. „Wir haben immer mit meinem Musiklehrer in der Oberstufe die Jungen Konzerte in Frankfurt in der Alten Oper besucht. Das war noch die Zeit, als Dirigent Paavo Järvi das HR-Sinfonieorchester leitete.“ Sie hat die Internatsschule Schloss Hansenberg in Geisenheim besucht und studierte nach dem Abitur Musikwissenschaft: „Erst den Bachelor an einer Musikhochschule, womit ich nah an den angehenden Musikerinnen und Musikern war. Danach habe ich den Master hier in Frankfurt an der Uni gemacht, der mehr forschungsorientiert war. In den letzten drei Jahren habe ich berufsbegleitend noch einen Master in Musikvermittlung absolviert.“
Seit jeher gibt es bei den sechs Jungen Konzerten große Klassik für kleines Geld. 17 Euro kostet ein Einzelticket für Schüler und Schülerinnen, Auszubildende und Studierende ab 14 Jahren. Auch die erwachsene Begleitperson zahlt keinen Cent mehr. Dafür geben sich an dem Konzertabend, der meist in der Alten Oper, manchmal auch im HR-Sendesaal stattfindet, erlesene Klassikstars die Klinke in die Hand: Violinistin Hilary Hahn war mehrfach dabei, auch Pianist Jan Lisiecki, die Klavierbrüder Lucas und Arthur Jussen und natürlich der aktuelle HR-Chefdirigent Alain Altinoglu samt Orchester.
Ganz klar sei der Anspruch der Jungen Konzerte, vierstellige Kartenzahlen zu verkaufen, verrät Jensen. Eins der Highlights in dieser Saison und als Junges Konzert extra beworben, war der „Schlagabtausch“ am 8. November 2023 im HR-Sendesaal. Jugendliche ab der achten Klasse verfolgten atemlos, wie die junge Perkussionistin Vivi Vassileva bei Gregor A. Mayrhofers „Recycling Concerto“ eine geheimnisvoll tönende Kadenz mit zwei leeren Plastikflaschen in der Hand trommelte. Oder Blumentöpfe, Bratpfannen, Kehrschaufeln und ein löchriges Ausgussbecken zum Schlaginstrument umfunktionierte. Dafür hatte sie das HR-Sinfonieorchester unter Dirigent Krzysztof Urbański mit jeder Menge Plastiktüten, mit Bohnen gefüllten Marmeladengläsern und leeren Plastikflaschen ausgestattet, die gar als Trompeten- und Posaunenstopfen fungierten. Das Konzert passte besonders gut zum Spielzeitmotto „Nature and Earth“ des HR-Sinfonieorchesters. Ebenso wie das Junge Konzert am 1. Februar 2024, bei dem Dirigent Tung-Chieh Chuang Stücke aus allen vier Jahreszeiten dirigierte: Händels „Feuerwerksmusik“, Max Steiners Titelmelodie zum Hollywood-Klassiker „Vom Winde verweht“, Hans Zimmers „Planet Earth II“-Suite und Dvořáks sinfonische Dichtung „Der Wassermann“. Garantin dafür, dass alle Jugendlichen aufmerksam zuhören, war Moderatorin Jennifer Sieglar, die ihrem Publikum als einstige Logo!-Kindernachrichtensprecherin des ZDF bekannt ist und die als aktuelle Moderatorin des HR-Formats „Klimazeit“ auftrat.
Spielzeitschule
„Zweimal im Jahr haben wir auch Schülerinnen und Schüler, die die Jungen Konzerte moderieren. Für das Projekt ‚Spielzeitschule‘, das wir ausschreiben, überlegen wir uns vorher, welche der Konzerte besonders geeignet sind“, berichtet Jensen. So moderierten am 8. Februar Jugendliche der Albert-Schweitzer-Schule in Offenbach das Junge Konzert mit dem Titel „Zauberkunst“. Sie erhielten vorher ein Moderationscoaching beim HR und lernten einiges zum Thema Bühnenpräsenz. „Wie laufe ich auf eine Bühne? Wie kann ich etwas spannend erzählen?“
Klassenkonzerte und Probenbesuche
Die Klassenkonzerte dagegen werden von den Musikern selbst mit entwickelt. „Wir haben zwei Programme im Repertoire, da gibt es kein festgelegtes Datum. Die Schulen fragen an und dann schauen wir, wie wir den Termin ermöglichen können. Aus logistischen Gründen beschränkt sich das meist auf das erweiterte Rhein-Main-Gebiet.“ Denn die Musiker müssten oft noch abends auftreten oder am Nachmittag zu Proben gehen. „Heute zum Beispiel hatten wir einen Probenbesuch von 60 Schülern, bei dem es zu einer kleinen Zeitverschiebung von 20 Minuten kam und plötzlich ein Leerlauf entstand. Da haben ein Trompeter und ein Hornist die Initiative ergriffen und die Zeit spielerisch mit Erklärungen überbrückt: Sie zeigten den Jugendlichen, was der Unterschied ist zwischen einem Naturhorn und einem modernen Horn und was das Besondere an einer Piccolotrompete.“ Zwölf Mal im Jahr werden die Proben des HR-Sinfonieorchesters für Schulklassen geöffnet.
Coach ’n‘ Concert:
Dieses Projekt richtet sich an gezielt an Schulorchester. Im Vorfeld fährt zum Beispiel ein Posaunist in die Schule und probt mit den Blechbläsern. „Das Schulorchester wird im Regelfall von Musiklehrern geleitet, die ganz anders arbeiten als eine Berufsmusikerin oder ein Berufsmusiker. Das ergänzt sich oft sehr schön.“ Am Schluss gibt es im Sendesaal ein großes Abschlusskonzert, an dem alle drei teilnehmenden Schulen ihre Ergebnisse mit den Coaches präsentieren dürfen.
Was von all dem kommt denn nun am besten an bei Kindern und Jugendlichen? „Die Klassenkonzerte und Schultouren haben vielleicht etwas weniger Pomp und weniger Strahlkraft als die Jungen Konzerte in der Alten Oper, sind aber genauso wichtig, weil sie die Musik mit dem Alltag der Schüler verzahnen“, findet die junge Education-Leiterin. Die Interessen seien unterschiedlich: „Die einen wollen dieses besondere Abenderlebnis in der Alten Oper, ziehen dazu ihr Abschlussballkleid oder den schicken Anzug an, für andere ist eher dieser eine Moment eindrücklich, wenn im Klassenraum plötzlich ein phantastischer Musiker auftaucht. Was ist die nachhaltigste Wirkung? Das ist schwer zu sagen: Es greift alles ineinander.“