Die Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar bietet ein langjähriges Projekt an, das ein AlleinstellungsmerkmaI in Deutschland besitzt: Klavierunterricht mit Blinden und Sehbehinderten. Initiiert von Klavier-Professorin Bettina Bruhn feiert die außergewöhnliche Initiative in diesem Jahr bereits 15-jährigen Geburtstag.
Check it: Klavierunterricht mit Blinden und Sehbehinderten
- Ein bundesweit einzigartiges Projekt
- Seit 2009 schon 25 Schüler unterrichtet
- Lehrerin singt vor und leitet die Finger zu den richtigen Tasten
- Anweisungen spricht sie auf ein Diktiergerät
- Es gibt auch Noten in Braille-Schrift
Schon viel länger gibt Klavierpädagogin Viola Michaelis in Weimar Klavierunterricht für Blinde. Seit sie das Projekt 2011 übernommen hat, ist sie bundesweit zur Spezialistin geworden und leitet an der Hochschule das aus zehn Komplexen und zwei Semestern bestehende Spezialseminar Didaktik „Klavierunterricht bei Sehschädigung“, das die Fähigkeiten angehender Instrumentalpädagogen im Masterstudiengang entscheidend erweitert. Im Auftrag der Musikhochschule unterrichtet die 57-jährige Magdeburgerin blinde und sehbehinderte Schüler und entwickelt didaktische Konzepte, die den Unterricht mit den Schülern wie auch die Lehrveranstaltungen mit den Studierenden betreffen.
Heute übt Michaelis mit ihrer neunjährigen Schülerin Emilia, die lediglich hell und dunkel sehen kann, und die sich im Wohnheim des Lebenshilfe-Werks Weimar das Lied „Blinke, blinke kleiner Stern“ auf den Tasten zusammensucht. Von der liebevollen und geduldigen Stimme ihrer Lehrerin geleitet, gelingt ihr das mit der Zeit immer besser. Zuerst arbeitet die Pädagogin an ihrer aufrechten Haltung: „Machst Du bitte einen Rollmops? Dann einen Blindenstock?“ Emilia rollt ihren Rücken wie ein Farn zusammen und streckt anschließend den Rücken gerade durch.
Die Fußbank wird kontrolliert, die Entfernung zum Instrument, dann macht sie die Einhakübung, um die Finger in Rundstellung zu bringen und die Ansteuerung zu verbessern: „Der vierte Finger sagt mal dem anderen vierten Finger guten Tag. Aber nur die Fingerspitzen tippen sich an, die Handflächen bleiben zusammen“, ermuntert sie ihre Lehrerin. Alles, was heute wichtig war, spricht sie Emilia in ein Diktiergerät, damit sich das Kind im Laufe der Woche die Anweisungen noch einmal anhören kann. Viel Vorsingen und immer wieder behutsam die Finger ihrer Schülerin zu den richtigen Tasten lenken: auch das ist Teil des ganz spezifischen Unterrichts. Soll doch das hoffnungsfrohe Sternen-Lied am 12. Dezember aufführungsreif sein. Dann wird Emilia beim Weihnachtsvorspiel im Festsaal Fürstenhaus der Weimarer Hochschule vorspielen.
„Emilia ist ein roher, ungeschliffener Edelstein und ich möchte ihr Entwicklungsimpulse geben“, findet Michaelis. „Sie kann sich sehr gut Melodien merken und sie auf dem Klavier auch umsetzen. Außerdem ist sie nahe daran ein absolutes Gehör zu entwickeln.“ Wie lässt sich das so früh erkennen? „Ich kann das daran ableiten, wie schnell sich Kinder auf der Klaviatur orientieren können. Wir üben das Tastenalphabet und die Zuordnung der Tonnamen zur Taste intensiv. Wenn die Zuordnung der Klangvorstellung zur Tastatur überaus schnell geht, dann ist das für mich ein klares Zeichen.“
Die Geburtsstunde des Blindenprojekts
Begonnen hat das ambitionierte Projekt laut Bettina Bruhn, Professorin für Klavier und Klavierdidaktik, mit einem Anruf: „2009 waren wir auf der Suche nach einem Profil, das in der Masterausbildung der Pianisten im Spezialseminar Fachdidaktik verankert werden sollte. Da rief mich ein Mann an, der sich mühsam zu mir durchgefragt hatte. Er sagte: ‚Ich möchte mein Kind gerne bei Ihnen in der Übungsschule anmelden. Er ist aber erst drei Jahre alt. Ich glaube, er ist sehr musikalisch, weil er alles Mögliche auf dem Klavier nachspielt, unter anderem Stellen aus der Matthäus-Passion von Bach.'“ Da habe sie sich gedacht: Das Kind schaust Du Dir mal an. Allerdings, so der Mann weiter: „Die Sache hat nur einen Haken: das Kind ist blind.“ Bettina Bruhn: „Ich nahm es als Wink aus dem Universum: Das war die Geburtsstunde des sogenannten Blindenprojekts.“
Der Start ist ihr 2009 durch eine Anschubfinanzierung über den Innovationsfonds und 2013 über den Kreativfond an der Hochschule gelungen. Wie sich herausstellte, hatte Vater Hoffmann den richtigen Instinkt. Sein Sohn Aaron Christopher ist nach Meinung von Bruhn „sicherlich der fortgeschrittenste Schüler der letzten 15 Jahre“. Sein großer Traum allerdings, in Weimar Klavier zu studieren, sei nicht so einfach zu verwirklichen, „weil er ja nicht nur sehr schön auf dem Klavier spielen, sondern auch alle anderen Facetten der Eignungsprüfung bestehen muss, also auch alle Nebenfächer wie Musiktheorie oder Gehörbildung.“
Die letzten zwei Jahre habe sich Aaron daher auf den Orgelunterricht fokussiert, weil er speziell im Bereich der Improvisation über ansprechende Kenntnisse verfüge und diese Teil der Eignungsprüfung im Fach Orgel seien. Zurzeit beschäftige er sich intensiv mit Cembalo und strebe ein Studium auf historischen Tasteninstrumenten in Weimar an. Vorläufiger Höhepunkt seiner Entwicklung war in diesem Oktober sein Auftritt bei der Vox-Show „The Piano“, als er mitten im Leipziger Hauptbahnhof Frédéric Chopins Nocturne Opus 32 spielte und Starpianist Igor Levit beeindruckt kommentierte: „Ich fühle nur Bewunderung.“
Stolz auf ihn ist auch seine langjährige Lehrerin Michaelis. Weil er zusätzlich noch ein begeisterter Chorsänger ist, wie sie berichtet, zwei Chöre begleite und die Chorleiterin der Diesterwegschule bei ihrer Arbeit unterstütze.
Weshalb hat sich Viola Michaelis damals so für das „Blindenprojekt“ interessiert? „Ich war immer neugierig und mich trieb die Urfrage an: Was steigert in einem Menschen das Vermögen Musik zu verstehen, zu durchleben? Lenkt uns das Sehen von vielem ab? Durch die Arbeit mit blinden Menschen wollte ich immer weiter eindringen in das Geheimnis, wie wir Musik ausdrücken und empfinden.“
Bereits im Hause ihrer Oma habe sie das Klavier fasziniert, erzählt sie. „Ich erinnere mich noch heute an den Klang, der für mich pure Schönheit bedeutete. Genau wie meine Schüler habe auch ich zuerst nur nach Gehör probiert und kannte keine Noten. Auch heute bin ich überzeugt: Weise Didaktiker fangen auditiv an. Wenn man keine Musik in sich aufnimmt, wie soll man Musik produzieren? Unsere Klavierdidaktik in Weimar ist so angelegt. Selbst mit sehenden Schülern lernen wir zunächst auditiv.“
Auch die Lehrerin lernt von der Schülerin
Professorin Bruhn ist immer noch beeindruckt davon, wie sich Michaelis „in dieses Metier, in dieses völlig neue Unterrichtsgebiet hineingefuchst hat, nachdem sie meine Anfrage angenommen hatte. Sie hat sich ständig weitergebildet, hat Seminare besucht, sich bei blinden Schülerinnen und Schülern wie Sinje Steinecke Rat geholt, hat mit viel Engagement die Blindennotenschrift ‚Klavierlernen Punkt für Punkt‘ von Martin H. Rembeck gelernt und nie aufgehört zu forschen.“
In der Tat kann Sinje Steinecke, die an diesem Tag nach Emilia die nächste Klavierschülerin von Michaelis ist, mit viel Erfahrung aufwarten. Sie ist in eine blinde Familie hineingeboren: Mutter und Bruder sind blind. „Wir haben eine Erbkrankheit, die allerdings nicht erforscht ist,“ berichtet sie. Sofort fällt auf, wie partnerschaftlich, ja freundschaftlich sich Lehrerin und Schülerin begegnen. „Wir haben uns 2015 am Tag der Offenen Tür am Humboldt- Gymnasium kennengelernt, da war ich 29 Jahre alt“, erzählt sie und lächelt. Was schätzt sie an ihrer langjährigen Lehrerin: „Ihre Geduld, Kreativität und ihre Präzision im Tun, so dass für mich verbal und physisch Dinge erlebbar werden. Dazu gehört: Wie bewege ich mein Handgelenk leichter, wie werden die Finger lockerer, wie kann ich meinen Körper mit einsetzen, wenn ich mit unterschiedlichem Ausdruck spielen möchte. Und umgekehrt: Durch das Aufwachsen mit einer blinden Mutter kann ich mein Wissen mit ihr teilen. Dadurch haben wir ein partnerschaftliches Miteinander.“
Ihre Lehrerin nickt zustimmend: „Es ist wichtig für mich, dass ich sie auch ganz alltägliche Dinge fragen kann: ‚Wie habt ihr das in der Familie gelöst? Wann hast du angefangen mit dem Messer zu schneiden? Kannst du dir, wenn du durch Weimar gehst, per Luftlinie vorstellen, wo dein Ziel ist? Oder merkst du dir die Links-Rechts-Straßenkombinationen?'“ Durch den langjährigen Austausch scheint Michaelis insgesamt sensibler geworden zu sein, was den gesellschaftlichen Umgang mit beeinträchtigten Menschen betrifft: „Leider ist einer meiner Schüler an der Musikschule in seiner Stadt abgelehnt worden, weil es angeblich keine Kollegin oder keinen Kollegen gibt, der sich zutraute, ein blindes Kind zu unterrichten. So ein Denken ist mir völlig fremd. Das darf so nicht sein, Teilhabe ist gesetzlich festgelegt. Musikalisches Talent findet man überall, unabhängig vom Sehvermögen.“
Nachdem beide mit spürbarer Freude vierhändig die Ramler-Vertonung „Ungewohnte Symphonien schlagen mein entzücktes Ohr“ geübt haben, betont Steinecke, dass sie es genießt, ohne Leistungsdruck musizieren zu können. „Das war vor vier Jahren schon einmal anders. Damals hat mich Frau Michaelis auf die Aufnahmeprüfung für den Studiengang ‚Inklusive Musikpädagogik/Community Music‘ in Eichstätt vorbereitet. Ich bin dort auch 2020 aufgenommen worden, musste aber nach drei Semestern das Studium aus gesundheitlichen Gründen einstellen. Besondere Herausforderung war, dass wir in der Coronazeit unterrichtet wurden und die ganze Praxis von zwei Semestern in einem einzigen Sommer lernen mussten. Besonders aber hat mich angestrengt, die Fülle der Prüfungsleistungen zu bewältigen und ein Projekt in Vollzeit durchführen zu müssen. Es war unglaublich hart.“ Es ist nicht das erste Studium von Steinecke: „Seit 2011 bin ich Diplom-Sozialpädagogin. Und ich engagiere mich ehrenamtlich in der Trauer- und Sterbebegleitung hier im Hospiz in Weimar. Außerdem gehe ich einmal die Woche laufen und einmal die Woche klettern. Gerade habe ich im Oktober den Kletter-Wettbewerb in der Kategorie Special Olympics innerhalb einer der beiden Wertungsgruppen gewonnen.“
Noten in Braille-Schrift
Weshalb ist das Erlenen der Braille-Notenschrift so wichtig, wenn doch so viel übers Gehör läuft? Michaelis dreht sich auf dem Klavierbock um und meint: „Ohne sie ist ein Musikstudium nicht denkbar: Blinde Studierende sollten – genau wie Sehende, die Schwarzschrift verwenden – nachschlagen können: Ist es Staccato oder keins? Wie lange wird der Ton gehalten? Wann ist die Phrase zu Ende?“ Die bis zu sechs Punkte repräsentierten die Tonhöhe, Tonlänge, auch Oktavlagen, Fingersätze, Abschnitte und Wiederholungen, oder auch Spielanweisungen wie Staccato, Forte oder ähnliches. „Mit den vier oberen Punkten des Vollzeichens wird die Tonhöhe angegeben, die zwei unteren Punkte lassen erkennen, ob es sich beispielsweise um eine Achtel- oder Viertelnote handelt.“ Michaelis hat diese komplexe Technik gemeinsam mit ihren Schülern gelernt.
Als sie an diesem Abend erst spät nachhause geht, hat sie allen Grund stolz zu sein – und mit ihr die Hochschule Franz Liszt: Haben sie doch eine eindrucksvolle Jubiläumsbilanz vorzuweisen. Neben den vielen Studierenden im Spezialseminar ist es ihr in den vergangenen 15 Jahren gelungen, 25 Sehgeschädigte, Kinder mit AD(H)S, geistiger Behinderung, Hörbehinderung und Sprachbehinderung zu unterrichten. Mittlerweile ist das Projekt auch in das Netzwerk Inklusion des Thüringer Musikschulverbandes eingebunden. Außerdem kommen immer wieder Anfragen von Klavierpädagogen aus dem ganzen Bundesgebiet und aus dem Tiroler Landeskonservatorium in Österreich.