Glocken im Orchester

Seltene Instrumente mit besonderem Klang

Vier neue Glocken für Symphonieorchester Montreal | Foto: Antoine Saito

Glocken kennt man aus unterschiedlichen Alltagssituationen – riesig groß am Kirchturm, wesentlich kleiner um den Hals einer Kuh oder ganz winzig, wenn sie an Heiligabend die Kinder zur Bescherung rufen. Manchmal gibt es Glocken auch als Instrument im Orchester. Das Symphonieorchester Montreal hat sich eigens sechs Carillon-Glocken in einer niederländischen Gießerei anfertigen lassen. Mit zwei dieser zusammen 450 Kilogramm schweren Glocken war das Orchester im November auf Europa-Tournee.

Check it: Glocken als Instrumente im Orchester

  • Es gibt unterschiedliche Formen und Größen
  • Orchester haben Platten- oder Röhrenglocken, aber nicht alle „echte“ Glocken
  • Große Glocken können bis zu 500 Kilogramm wiegen
  • Der Komponist Richard Wagner wollte sogar eine 260-Tonnen-Glocke
  • Glocken klingen allein anders als im Orchester

Kinder sind außerordentlich neugierig. Während eines Konzertes, bei dem die Instrumente des Orchesters vorgestellt wurden, war natürlich der Dirigent aufs Beste vorbereitet. Er wusste alles, oder sagen wir eher, fast alles. Zum Beispiel, dass das Saxophon zwar aus Metall angefertigt wird, aber zu den Holzbläsern gehört. Bei der Oboe wurde es kompliziert, als ein Kind fragte, wie viele Schrauben darin verbaut wären. Dirigent und Oboist schauten sich fragend an, darauf war man nicht vorbereitet. Der Oboist verschwand hinter der Bühne und wurde zum Zählen verdonnert. Nach ungefähr zehn Minuten kam er zurück und hatte auch etwas gelernt: die Anzahl der verbauten Schrauben.

Welche Fragen drängen sich auf, wenn bei einem Orchesterkonzert Glocken erklingen? Erst einmal, ob die überhaupt zu den Orchesterinstrumenten gehören. Die Antwort ist natürlich mit „ja“ zu beantworten. Nur dass „normale“ Orchesterglocken gemeinhin eine andere Form haben als die, die man von Kirchen her kennt. Orchester haben Platten- oder Röhrenglocken (tubular bells). Die akustische Wirkung ist jedoch im Verhältnis zu den „echten“ Glocken (carillon bells) nicht zufriedenstellend. Abschreckend ist auch das Gewicht von Glocken, die schnell um die 500 kg wiegen können und, dass die Herstellung kompliziert und recht teuer ist.

Unter physikalischen Aspekten wird es noch komplizierter. Recht einfach zu verstehen ist die Tatsache, dass je größer eine Glocke, sie auch umso tiefer klingt. Dann gibt es Glocken, deren Anschlag mit mehr Geräuschen verbunden ist, diese klingen interessanter, aber es gibt auch solche, die beim Anschlag weniger Nebengeräusche erzeugen und viel zarter klingen. Das hängt zusammen mit komplexen physikalischen Sachverhalten, deren Erklärung hier zu weit führen würde. Man kann aber festhalten, dass das Herstellen einer Glocke eine höchst vertrackte Angelegenheit ist.

Der Hörer erfindet einen Ton hinzu

Noch komplizierter wird der Sachverhalt, wenn die Glocken im Orchester erklingen. Die empfundene Tonhöhe einer Glocke ist nämlich ein sogenannter Residualton – das heißt, er entsteht beim Hörer aufgrund bestimmter Zusammensetzungen. Vereinfacht formuliert erfindet der Hörer hier einen Ton hinzu, der überhaupt nicht erklingt. Das ist übrigens ein Phänomen, das auch beim modernen Lautsprecherbau verwendet wird. Wenn also spektrale Anteile des Glockentones vom Orchester verdeckt werden, entsteht ein ganz anderer Höreindruck als bei dem alleinstehenden Glockenklang; es kann sogar die empfundene Tonhöhe beeinflusst werden bzw. die Stimmung falsch erscheinen. Viele Glocken klingen also solistisch gespielt gut, im Zusammenklang mit dem Orchester aber zumindest unpassend oder sogar falsch gestimmt. Eine riesige Glocke, die in der Fortissimo-Stelle laut genug wäre, würde – zart angeschlagen – kaum ihren charakteristischen Klang entwickeln können. Glocken klingen nun einmal nur ab einer gewissen Anschlagsstärke.

Perkussionist Serge Desgagne | Foto: Antoine Saito

Aber das ist ja etwas, worüber Komponisten selten nachdenken. Der Komponist Hector Berlioz wollte für seine Sinfonie fantastique einen wirklichen Glockenklang haben und forderte zwei Glocken. Das fanden auch andere Komponisten einleuchtend und seitdem gehören Glocken zu den Orchesterinstrumenten. Richard Wagner hat es natürlich mal wieder übertrieben. Für sein Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ schwebte ihm eine Glocke vor, die bis zu 20 Töne tiefer klingen sollte als die größte Glocke des Wiener Stephansdoms mit dem tiefsten Ton. Die heißt „Pummerin“ und wiegt beachtliche 20 Tonnen. Für den tiefsten Parsifal-Ton, ein Kontra-E, wäre eine Glocke notwendig geworden, die bei einem Durchmesser von acht Metern 260 Tonnen gewogen hätte. Der Klang dieser Glocke wäre sicherlich faszinierend, zumal auch Schwingungen im Infraschall entstehen würden. Der ist zwar unhörbar, aber zu fühlen.

Orchester lässt sich riesige Glocken gießen

Es ist gut nachvollziehbar, dass nicht jedes Orchester Glocken in unterschiedlichen Tonhöhen für über 300 verschiedene Kompositionen ihr Eigen nennen kann. Umso mehr kann man sich die Freude des Chefdirigenten des Symphonieorchesters Montreal (OSM), Rafael Payare, darüber vorstellen, dass der Orchestervorstand unter Sébastien Almon grünes Licht für zehn Glocken gegeben hat. Nun musste eine Gießerei gefunden werden, die um die Problematik von Glocken im Orchester weiß. Nach umfangreichen Recherchen fiel die Wahl auf die traditionsreiche Gießerei Royal Eijsbouts Foundry in den Niederlanden, die schon für das Royal Concertgebouw Orchestra Glocken angefertigt hatten.

Dirigent Rafael Payare probiert die neuen Glocken | Foto: Antoine Saito

Über Geld redet man dabei ungern, aber mit der Groupe Canimex und deren Chef Roger Dubois hat man glücklicherweise finanzkräftige Sponsoren, die zudem einen ausgeprägten Sinn für die Qualitäten des OSM haben. Mittlerweile konnte die Royal Eijsbouts Foundry alle zehn Glocken ausliefern. Rafael Payare ist mit den neuen Klangmöglichkeiten mehr als zufrieden, für ihn sind diese Glocken so prestigeträchtig wie eine Violine des berühmten italienischen Geigenbaumeisters Stradivari.

Auf seiner Europatournee im November, bei der auch die Sinfonie fantastique auf dem Programm stand, konnte Rafael Payare stolz zwei passenden Glocken mit den Tönen G und C präsentieren. Diese Glocken verfügen – richtig gespielt – über ein feines Maß an Klangmöglichkeiten. Dafür benötigt man natürlich auch die passenden Musiker. Auch hieran hat Rafael Payare gedacht: „Unsere Perkussionisten waren an der Beschaffung der Glocken beteiligt und haben an der Festlegung der Spezifikationen für die Glocken mitgewirkt. Natürlich war ein gewisses Maß an Anpassung erforderlich, um sie gut spielen zu können, aber es war eine praktische, praxisnahe Lernerfahrung. Sie waren gut darauf vorbereitet, dieses Instrument zu spielen.“

Manche Forderungen des Komponisten können nur mit echten Glocken umgesetzt werden. Im zweiten Abschnitt des Finales der Sinfonie fantastique wird das „Dies irae” und seine parodistische Verzerrung von Glocken begleitet, die „derrière la scène” zu postieren sind. Diese räumliche Trennung war Berlioz wichtig. Es erzeugt eine räumliche Dimension, die in der Oper eine selbstverständliche Tradition hat – man denke an die separaten Orchester in Mozarts „Don Giovanni“ oder an die von außen hereinklingenden Signale in Beethovens „Fidelio“.

Die Wünsche des Komponisten respektieren

Auch dieser wichtige Aspekt kann jetzt berücksichtigt werden, so Rafael Payare: „Es ist wichtig, die Wünsche des Komponisten zu respektieren, und in diesem Fall ist es auch ein praktischer Faktor, der ins Spiel kommt. Natürlich hat es einen klanglichen Aspekt, die Glocken im Konzert außerhalb des Saals zu platzieren, wie eine Glocke, die in der Ferne läutet. Vor allem ist es undenkbar, eine Glocke im Forte oder Fortissimo auf der Bühne zu spielen, da dies den Klang des Orchesters stark beeinflussen würde. In unserem Fall spielen wir sie außerhalb des Saals, aus Respekt vor Berlioz‘ Wünschen, aber auch, um dem Publikum und dem Orchester ein besseres Erlebnis zu bieten.“ Dass nun das Orchestre Symphonique de Montréal zum kleinen, aber feinen Kreis der Klangkörper gehört, die über ein Glockensatz verfügen, darauf kann der Chefdirigent nun wirklich stolz sein.

Rafael Payare mit Glockenschlägeln | Foto: Antoine Saito

Rafael Payare ist vom klanglichen Ergebnis begeistert und freut sich schon über ihren Einsatz in anderen Kompositionen, wie zum Beispiel die Opern „Tosca“ von Giacomo Puccini und „Die Hugenotten“ von Giacomo Meyerbeer oder einige Sinfonien von Gustav Mahler.

Aber es geht Payare um mehr. Das Erlebnis eines Konzertes ist von besonderer Art, da es den ganzen Menschen berührt und das ist etwas, das man mit den besten Tonträgern nicht erreichen kann. Zahlreiche Tests habe dies wissenschaftlich bewiesen. Und bei aller Rationalität im Instrumentenbau sind Glocken noch immer etwas Besonderes. Nicht weil wir sie aus verschiedenen Zusammenhängen seit unserer Kindheit kennen, sondern weil wir dem Klang der Glocken schutzlos ausgeliefert sind und er – pathetisch formuliert – uns bis ins Innerste erschüttern kann. Genau aus diesem Grund war auch die Nachahmung des Glockenklangs mit Hilfe von elektronischen Musikinstrumenten wie dies Herbert von Karajan und John Eliot Gardiner, um nur zwei zu nennen, unternahmen, zwar klanglich spektakulär, aber letztendlich wenig zufriedenstellend.

Und mit den zehn Glocken ergeben sich weitere Klangmöglichkeiten. Orchesterdirektor Sébastien Almon hat auch vor, dieses Klangpotential mit neuen Kompositionen zu erkunden und will Auftragswerke vergeben. Es bleibt spannend beim OSM. Man darf sich also auf neue klangliche Überraschungen freuen und mit John Cage wünschen: „Happy new Ears!“.

Neue Glocken für Orchestre Symphonique de Montréal | Foto: Antoine Saito

Wer jetzt Lust bekommen hat, sich näher mit Glocken und deren Produktion zu beschäftigen, dem sei Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“ empfohlen, das übrigens in der ersten Fassung „Glockengießerlied“ hieß. Der Dichter kannte sich in der Tat sehr gut mit dem Handwerk aus, denn er war mit dem Sohn eines Glockengießers befreundet. Wilhelm von Humboldt stellte im Jahr 1830 fest: „In keiner Sprache ist mir ein Gedicht bekannt, das in einem so kleinen Umfang einen so weiten poetischen Kreis eröffnet, die Tonleiter aller tiefsten menschlichen Empfindungen durchgeht und auf ganz lyrische Weise das Leben mit seinen wichtigsten Ereignissen und Epochen wie ein durch natürliche Grenzen umschlossenes Epos zeigt“.

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