Wortschatz von Musikern gestern und heute – Vergleichsstudie mit einigen Fragezeichen

Und weshalb Statistik sich selbst den Garaus macht

Grafik: von Romina Hirschmann

Eine Studie hat den Wortschatz von 100 Sängerinnen und Sängern zwischen gestern und heute statistisch vergleichend ausgewertet. Man wollte feststellen, inwieweit die Lyrics der Popularmusik sich im Laufe der Jahrzehnte verändert haben. Das soll wohl mit künstlerischem Intellekt zu tun haben und den aktuellen Pop vom Verdacht der worthülsengeschwängerten Eintönigkeit befreien. Das Resultat? Sagen wir’s mal so: Wir glauben nur der Statistik, die wir eigenhändig gefälscht haben. Mit beiden Beinen fest in der Luft:

Songtexte der 100 aktuell erfolgreichsten Künstler auf Spotify analysiert

Der Autor der Studie, Designer und Datenforscher Matthew Daniels, widmet sich dem visualisierten Journalismus. Dabei versucht er herauszufinden und herauszukristallisieren, was Schreiben besser lesbar macht. Eigentlich also ein reinweg sprachlich orientiertes Projekt, bei dem nun allerdings auch die Songtexte von 100 Künstlern von der Folkszene um Bob Dylan und Co. bis zu aktuellen Rap-Lyrics miteinander verglichen wurden. Für den Vergleich über die Wortsuchmaschine WordTips wurden die Texte der 100 „aktuell erfolgreichsten“ Künstler auf Spotify herangezogen, was bereits die ersten Fragen aufwerfen dürfte.

Offensichtlich der musikalische Meister der geflügelten Worte: Bob Dylan | Foto: extrahiert aus YouTube-Video

Das zeitliche Raster kann für eine verifizierte Aussage nicht passen

Immerhin wurde der Musikstreaming-Service von Spotify erst am 07.10.2008 veröffentlicht. Die Vergleichsgröße über die Jahrzehnte wird insofern kurios, als es den Dienst etwa in den 60er- und 70er-Jahren also noch nicht gab. Zumindest scheint das ausschließlich auf Spotify projizierte Ranking der auserwählten Künstler sich somit selbst den verifizierbaren Garaus zu machen. Aber wir wollen möglicherweise Zukunftsweisendes nicht durch vorsätzliche Erbsenzählerei übersehen.

Resultate wenig aussagekräftig bis schlichtweg nichtssagend

Ergeben hat die statische Auswertung einerseits eine ganz Menge, auf der anderen Seite rein gar nichts. Als erster Bewertungsindex herangezogen wurden die jeweils einmaligen Wörter pro 1.000 innerhalb der Songtexte. Und schon da überfällt uns förmlich die nächste Kuriosität. Patti Smith, bekannt als die Godmother of Punk, führt diese Liste mit 217 einmaligen Wörtern pro 1.000 an. Achtung, festhalten: Joni Mitchell als eine der bedeutendsten Singer-Songwriterin der wortgewandten und ambitionierten 1970er Jahre folgt dahinter mit 199 Unique-Wörtern per 1.000. Punk übertrumpft die politisch inspirierte Folkszene aus Woodstock-Zeiten? Vermutlich eher nicht. Vielmehr müsste man definieren, was ein Wort ist.

Weshalb sollte eine ganze Generation das Sprechen verlernt haben?

Wie dem auch sei, einer der gegenwärtig aktuellen Stars, nämlich Singer-/Songwriterin Billie Eilish, folgt erst auf Platz 5. Daraus möchte man nun ablesen wollen, dass die aktuelle Pop-Musik zunehmend wortkarger wird. Echt jetzt? Ein solcher Rückschluss scheint doch ziemlich platt und zudem weit hergeholt. Ein Peak bleibt eben ein Peak und nicht mehr. Tatsächlich relativiert sich der Vergleichswert im Mittelfeld. Dort nämlich steht zwischen alt und neu dieselbe Anzahl von Künstlern. Mit diesem plakativen Auszug könnte man wiederum vermuten, die aktuelle Generation habe keinesfalls das Sprechen verlernt. Was für eine Frage; weshalb sollte sie auch?

Künstler mit den meisten verwendeten Wörtern unter der Lupe

Ebenso wurden von Matt Daniels die Künstler mit den meisten verwendeten Wörter unter die statistische Lupe genommen. Die Spitzenposition sichert sich Bob Dylan mit 12.285 Wörtern. Vielleicht ist es doch nicht vollkommen abstrus, dass er 2017 als erster Musiker überhaupt mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde? Vermutlich nicht grundlos hatte er die Auszeichnung vorerst nicht in Empfang genommen. Wie dem auch sei, es folgen Künstler wie Prince, Elton John und Lou Reed.

Der inflationär zitierte Vergleich von Äpfeln und Avocados

Rückschlüsse möchte man daraus auf die vorhandene oder eben nicht vorhandene Intellektualität von Songtexten ziehen. Nun sollte allerdings jedem klar sein, dass der Vergleich hinkt, wie ein dreibeiniger Hamster. Erstens: Unter Lyrikern wird Shakespeare für sein Wortschatz-Repertoire von geschätzten 100.000 Wörtern gelobt. Kann mal irgendwer auch nur ansatzweise erklären, wie eine solche Wucht und Menge der Worte in Songs verarbeitet werden sollte? Und zweitens lebt Musik bekanntlich von Pausen, von dem richtigen Ton im exakt richtigen Moment und von prägnanten Worten mit Wiederholungsfaktor und Interpretationsspielraum. In der Musik kann die Menge der verwendeten Wörter kein Qualitätskriterium sein.

Zielsetzung der Studie mutiert zum Bullshit-Bingo

Vielmehr sind die Texte immer ein Spiegelbild der jeweiligen Zeit. Es geht ausschließlich um die Aussage. Vor diesem Hintergrund wird die Vergleichsstudie zum typischen Bullshit-Bingo. Ein Song ist kein Hörbuch und zwei Wörter können oftmals treffender sein als ein kompletter Roman. Hat schon mal jemand darüber nachgedacht, dass eine Vielzahl der Liedtexte von professionellen Textern geschrieben wird? Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass so manche Statistik als Selbstzweck antritt, um eine These zu beweisen, die die Initiatoren gerne als wahrhaftige Realität darstellen würden.

Quelle: https://word.tips/singers-vocabularies

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