50 Jahre Junge Deutsche Philharmonie

Brücke zwischen Studium und Beruf

Junge Deutsche Philharmonie | Foto: © Salar Baygan

„Wir sind uralt – Wahnsinn!“, sagt Vorstandsmitglied Björn Gard ungläubig und fasst sich dramatisch an die Stirn, als er im Dachgeschoss der Schwedlerstraße in Frankfurt am Main die Pläne der Jungen Deutschen Philharmonie für die Jubiläumssaison vorstellt. Das ist nur verständlich: Wenn man wie der junge Cellist aus Saarbrücken erst 22 Jahre jung ist, erscheint einem die 50 als unvorstellbare Zahl. Außerdem sei er selbst „ziemlich dienstalt“, meint Gard. Obwohl erst 18 Monate dabei, habe er als junges Vorstandsmitglied des berühmtesten Orchesters aus Studenten von deutschsprachigen Hochschulen bereits bei sechs Projekten mitgearbeitet.

Gegründet von ehemaligen Bundesjugendorchester-Mitgliedern

Die Junge Deutsche Philharmonie war seit ihrer Gründung 1974 der erste Klangkörper, der demokratische Mitbestimmung für Orchestermitglieder einforderte. Zu ihrer DNA gehörte von Anfang an die Abkehr von Hierarchien und Marktgesetzmäßigkeiten. Die gesellschaftskritischen 1960er-Jahre und die kulturelle Liberalisierung, besonders aber das Hochschulrahmengesetz in den Universitäten und Hochschulen haben atmosphärisch entscheidend dazu beigetragen. Die Junge Deutsche Philharmonie wurde von Musikern gegründet, die gerade dem Bundesjugendorchester entwachsen waren. „1974 fragten sich ein paar Alt-BJO-ler (Bundesjugendorchester), unter ihnen vor allem als Motor Karsten Witt, warum man jetzt – als Studenten – nicht weitermachen solle mit der überregionalen Orchesteridee“, erinnert sich Ingeborg Scheerer, Gründungs- und heute Ehrenmitglied der Jungen Deutschen Philharmonie.

Laura Ochmann | Foto: © Salar Baygan

Unbestreitbar ist, dass sie seit 1974, anfangs noch unter dem Namen Bundesstudentenorchester, als selbstorganisiertes Orchester aus den besten Musikstudenten im deutschsprachigen Raum gewaltige Fußspuren in der Klassiklandschaft hinterlassen hat: Ohne sie hätte es das Ensemble Modern, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, das Ensemble Resonanz und das Freiburger Barockorchester nicht gegeben. Dass ihre Mitglieder die Junge Deutsche Philharmonie seit geraumer Zeit als „Zukunftsorchester“ begreifen, ist daher mehr als verständlich.

260 junge Musiker aus über 30 Nationen

Selbstgewollt und demokratisch erfragt ist die Entscheidung der 260 Studentinnen und Studenten aus über 30 Nationen, die 50. Saison nicht mit einem einzelnen Festakt oder einer Festschrift zu würdigen, sondern eine ganze Saison lang musizierend zu feiern. Cellist Björn Gard und Violinistin Laura Ochmann fangen gleich damit an: Sie intonieren gemeinsam Arthur Honeggers Finalsatz seiner Sonatine für Violine und Cello, H.80 und setzen damit den festlichen Ton.

Auch die 21-jährige Violinistin Ochmann ist seit anderthalb Jahren dabei und erklärt die Aufnahmebedingungen. Beim ersten der drei angesetzten Probespiele musizieren die Bewerberinnen und Bewerber noch hinter dem Vorhang vor einer Jury, die aus Studenten plus einem Hochschulprofessor oder einem Profiorchestermitglied als beratendem Beisitzer besteht. Bei den beiden nächsten Runden falle der Vorhang weg. „Die dritte ist die Kammermusikrunde“, erklärt die junge Musikerin aus Königstein. Wäre es nicht fairer, wenn der Vorhang später auch bleibt? Björn Gard widerspricht: „Man erlebt die Bewerber schon anders, wenn man sehen kann, wie sie beim Musizieren performen.“ Beide nicken. Ein Trost: Die Beisitzer geben den ausscheidenden Bewerbern noch ein ausführliches Feedback. Auch dürfe man sich so oft bewerben, wie man wolle.=“Aus der JDPh sind noch weitere Orchester hervorgegangen“>Gleichberechtigung ist ein wichtiges Thema

Wie ist der Stand der Gleichberechtigung nach 50 Jahren? Gard holt für seine Antwort etwas aus: „Unser Ziel ist, dass dieses wichtige Thema eigentlich keine Rolle mehr spielen sollte. Tatsache ist aber, dass die Gleichstellung noch etwas forciert werden muss. Wir versuchen, am Puls der Zeit zu sein und vorzudenken. Dabei sollte Qualität entscheiden, nicht Geschlecht.“

Ochmann schildert ihre Sicht mit Bedacht: „Frauen und Musik: Für mich ist das ein wichtiges Thema. Aber wir diskutieren darüber gar nicht mehr so viel, denn unser Programm ist schon sehr ausgewogen. Ich war jetzt Konzertmeisterin bei zwei Projekten und wenn ich genauer nachdenke: Bei den letzten Projekten hatten wir ausschließlich Konzertmeisterinnen.“

Björn Gard | Foto: © Salar Baygan

Björn Gard studiert Cello in Leipzig und fährt für seine Mitgliedschaft plus Vorstandstätigkeit zwei- bis dreimal im Monat nach Frankfurt am Main: Für die vielen Education-Projekte, für die Probespiele, für Sitzungen des Vorstands. Die im Taunus aufgewachsene Ochmann hat es leichter: „Für mich ist die Anreise nicht so aufwendig.“ Wenn man lediglich normales Mitglied ist, muss man sich bei mindestens zwei Projekten pro Jahr zu engagieren.

In ihrer Biografie fällt auf, dass beide nicht aus ehrgeizigen Musiker-Elternhäusern stammen, wie in der Branche oft üblich. Björn Gard erzählt, wie das bei ihm war: „Meine Eltern waren Hobbymusiker. Mein Vater spielte klassisches Akkordeon, meine Mutter Klavier. Seit ich vier Jahre alt war, sind wir aus unserem Ort in der Nähe von Saarbrücken immer in die Konzerte der Deutschen Radiophilharmonie gefahren. Das hat mich geprägt.“ Ochmann ist gar die einzige Musikerin in ihrer Familie. „Mein Vater wollte immer Klavier spielen. Mir hat er schon ganz früh eine Geige nach Hause mitgebracht.“

Ausblick auf die Jubiläumssaison

Bereits in der Programmbroschüre haben die beiden Streicher beschrieben, was genau diese Jubiläumssaison so besonders machen wird und inwiefern viele der Programme sich im Kern auf die gesellschaftlich fortschrittlichen Ansätze zurückführen lassen, die zur Gründung des Orchesters beigetragen haben: „Da ist unsere Neugier auf zeitgenössische Musik, die sich in dieser Saison mit gleich drei Werken zeigt, welche das Orchester in Auftrag gegeben hat und die es uraufführen wird. Da ist unsere Lust daran, gemeinsam Neues zu entdecken, aus der das Experiment ‚Shifting futures‘ bei ‚Freispiel‘ 2024 hervorgegangen ist. Und deutlich erkennbar ist auch in dieser Saison unser Wunsch, uns zu engagieren: Für unser Orchester natürlich, aber auch für die Gesellschaft, in der wir leben.“ In der Tat ziehen sich Themenfelder wie Demokratie und Mitbestimmung, Nachhaltigkeit und Umweltschutz durch alle Konzertprogramme der Saison 2024/2025.

André de Ridder | Foto: © Marco Borggreve

Unter dem bekannten Dirigenten André de Ridder eröffnet die Junge Deutsche Philharmonie beim spartenübergreifenden, selbst kuratierten Festival „Freispiel“ vom 29. August bis zum 1. September 2024 ihre goldene Saison in Frankfurt. Das Motto diesmal: „Shifting futures“. André de Ridder, aktuell Generalmusikdirektor des Theaters Freiburg, wird als künstlerischer Leiter und Dirigent alle Zukunfts-Konzerte betreuen. Er weist besonders auf den Termin „Fashioning the Orchestra“ hin, bei dem sich das Orchester am 29. August 2024 im Frankfurt LAB „die musikalischen Siebenmeilenstiefel“ anziehen werde: Beginnend beim Barock mit Giovanni Gabrieli (1554 – 1612) und seiner „Canzona per sonare“ schreiten sie durch die Jahrhunderte bis hin zur zeitgenössischen Komponistin Ellen Reid, die 1983 geboren ist, und ihrem Werk „Foodplain“. Gemeinsam mit der jungen Modedesignerin Kaja Busch gelte es, „mit Laufstegerfahrungen und der Brechung von Sehgewohnheiten zu spielen“, erläutert de Ridder. Parallel zur musikalischen Veränderung werde sich auch das Orchester verwandeln und damit seine äußere Erscheinung. Das Besondere: Kaja Busch verwende recycelte Materialien für ihre Orchesterkostüme. De Ridder: „Wir fragen: Wie viele Brüche mit Traditionen können dabei Publikum und Orchestermitgliedern zugemutet werden?“

Bei späteren „Freispiel“-Konzerten ist die britische Pianistin Isata Kanneh-Mason unter dem Konzertitel „Mental Mirrors“ gemeinsam mit Rapperin Leila Akinyi zu erleben, ebenso wie die klassisch ausgebildeten musikalischen Grenzgänger Richard Reed Parry, Hania Rani und Brandt Brauer Frick. Die drei sind Teil des ersten „BBC unclassified Live“-Abends im Frankfurter LAB, moderiert von Elizabeth Walker aus der in England sehr bekannten BBC-Radio 3-Musiksendung „unclassified“. Die Idee: Die Bühne wird zum Radiostudio und das Publikum Teil einer Radioshow.

Unter dem Titel „Spirit of democracy“ findet die Zukunftsserie der Freispiel-Konzerte symbolträchtig am 1. September in der Frankfurter Paulskirche ihren Abschluss. Das Herzstück des Konzerts ist die Uraufführung des Auftragswerks der mexikanischen Komponistin Diana Syrse, die in ihrer Komposition Aussagen aus der deutschen Nationalversammlung von 1848 verarbeitet.

Freispiel | Foto: © Salar Baygan

André de Ridder probt mit der Jungen Deutschen Philharmonie zwei Wochen lang für die Freispiel-Konzerte im Württembergischen Schloss Kapfenburg. „Dabei werden wir genug Zeit haben, gemeinsam in die Tiefe zu gehen. Übrigens fühle ich mich dabei sehr gefordert. Immer wieder spüre ich: „Die wollen mehr.“ Die – damit meint er seine wissbegierigen, exzellenten Studentinnen und Studenten.

Am 13. September steht für das junge Orchester das herausragende Festkonzert „Lied der Nacht“ auf dem Programm: Unter ihrem langjährigen Ersten Dirigenten Jonathan Nott eröffnen sie im Concertgebouw im belgischen Brügge eine Konzertserie mit Gustav Mahlers 7. Sinfonie und stellen damit unter Beweis, dass es ihnen neben gesellschaftlichem Engagement auch immer um musikalische Exzellenz geht. Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass Lucia Ronchettis ambitioniertes Werk „Studio di ombre“ aus dem Jahr 2022 der gigantischen Mahler-Sinfonie als Auftakt dienen wird. Der verdiente Jonathan Nott wird mit den vier Mahler-Herbstkonzerten seine Amtszeit als Erster Dirigent und künstlerischer Berater nach zehn Jahren beenden.

Der weltweit renommierte Nott, Musikdirektor des Tokyo Symphony Orchestras sowie Chefdirigent des Orchestre de la Suisse Romande, außerdem lange Jahre hochgelobter Leiter der Bamberger Symphoniker, engagiert sich schon immer leidenschaftlich für die Ausbildung junger Musikerinnen und Musiker. So hat er gemeinsam mit Marina Mahler und Paul Müller die Mahler Conducting Competition zur Förderung des dirigentischen Nachwuchses ins Leben gerufen. Für die „Junge Deutsche Philharmonie“ hat der scheidende Dirigent wärmste Formulierungen in der Broschüre gefunden: „Als Dirigent allein ist das Leben nicht nur lautlos, sondern nutzlos. Die Herzensverbundenheit dieser Musikerinnen und Musiker strahlt allen entgegen, die ihnen nahekommen.“

Jonathan Nott, Erster Dirigent der Jungen Deutschen Philharmonie | Foto: © Achim Reissner

Die goldene Saison wird fortgesetzt mit der aus fünf Konzerten bestehenden Neujahrstournee „Celebrations“ unter Dirigentin Delyana Lazarova und mit der Winter-Kammermusik „Agora“, in der ein sechsköpfiges Blechbläserensemble Werke vom Barock bis zur Gegenwart anbietet. Anschließend wird die Junge Deutsche Philharmonie auf ihrer Frühjahrstournee unter dem Begriff „Circles“ gemeinsam mit dem Rias-Kammerchor auftreten, und das krönende Saisonfinale folgt mit sommerlicher Kammermusik unter dem Stichwort „Evergreen“.

Wo soll die Reise hingehen?

Noch einmal zurück zu Björn Gard und Laura Ochmann, den beiden vielversprechenden jungen Gesichtern des Orchesters. Wer sie funkenschlagend beim gemeinsamen Musizieren erlebt, sieht zwei Menschen voller Tatendrang, die bereit sind, die Musikwelt von morgen zu gestalten. Nicht nur für sie ist die Junge Deutsche Philharmonie ein bedeutender Brückenschlag zwischen Studium und Beruf und die Mitgliedschaft ein wichtiges Gütesiegel ihrer Ausbildung.

Wenn sie sich erlaubten zu träumen: Wo soll die Reise für sie hingehen? Beide wollen sich noch nicht festlegen. Vorstellen kann man sich jedenfalls, dass sei einmal in der Streichergruppe der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen sitzen, für das Ensemble Resonanz arbeiten oder lehrend an einer Musikhochschule tätig sind. Wie so viele andere vor ihnen, die aus den Reihen des Orchesters hervor gegangen sind.

Weitere Informationen zur Jungen Deutschen Philharmonie gibt es auf ihrer Webseite.

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