„Die (unsicheren) vier Jahreszeiten“ – wie die Welt im Jahr 2050 klingt

Orchester machen den Klimawandel hörbar

| Foto: Shutterstock von liseykina

Seit der Uraufführung von Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ vor knapp 300 Jahren hat sich die Welt dramatisch verändert. Nun wurde sein Werk von Komponisten, Musikern, Klima- und Computerwissenschaftlern unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz algorithmisch neu komponiert. Entwickelt wurde die Neuauflage auf Basis geografischer Klimavorhersagen für das Jahr 2050. Ziel war und ist es, das globale Klima ab 2050 hörbar zu machen. Schweigende Vögel klingen nicht:

Check it: Die unsicheren vier Jahreszeiten

  • Vivaldis Partituren als Spiegel der Vergangenheit
  • Vier Jahreszeiten in jeder Region unterschiedlich
  • Mahnende Aufführungen auf sechs Kontinenten
  • Klimawandel wird hörbar gemacht
  • Orchester nehmen Entscheider in die Verantwortung
  • Immense Bedeutung der Musik als emotionale Sprache

Wenn Vivaldis Weltbild aus „Die vier Jahreszeiten“ nicht mehr existent ist

Nichts Geringeres als eine Sensation war es, als das Publikum Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ 1725 zum ersten Mal hörte. Mit der Konzertreihe erzählte er eine Geschichte und übersetzte die Sprache der Natur in Musik. Es war eine komplexe Momentaufnahme seiner Zeit. Der Meister sammelte seine Impressionen in vorindustrieller Zeit, noch bevor die Menschen den Bezug zur Natur verloren. Mittlerweile ist der Klimawandel längst unbestreitbare Realität.

Vivaldis Partituren wie ein Bildnis der zerstörten Vergangenheit

Ein Thema, das global alle Menschen betrifft und keinerlei zeitlichen Spielraum mehr lässt. Dennoch sind die Resultate der Klimakonferenz 2021 in Glasgow bekanntlich weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Und das, obschon Wissenschaftler voraussagen, dass sich das Klima der Erde bis zur Unkenntlichkeit verändern wird, falls keine Anstrengungen zur Eindämmung der Treibhausgas-Emissionen unternommen werden. Und somit sind Vivaldis Kompositionen zum Traumbild der Vergangenheit geworden. Seine musikalische Beschreibung stimmt nicht mehr.

Resultate weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben | Foto: Shutterstock von Sepp photography

Weshalb die vier Jahreszeiten in jeder Region unterschiedlich klingen

Mit dem Projekt „The [Uncertain] Four Seasons“ – die unsicheren vier Jahreszeiten – wurde Vivaldis Werk nun auf Basis der aktuellen Realitäten neu komponiert bzw. interpretiert. Bereits im Vorfeld des Weltklimagipfels 2021 wurden mithilfe eines ausgeklügelten Algorithmus verschiedene Versionen für diverse global verteilte Orte geschrieben. Verwendet wurden für die KI-gestützte Partitur lokale Klimamodelle, die den schlimmsten Fall für das Jahr 2050 modellieren und ebenso die regional unterschiedlichen Auswirkungen abbilden. Aufgezeigt werden soll damit, wie sich eine zukünftige Welt anfühlen könnte. Und zwar nicht irgendwo am anderen Ende der Welt, stattdessen exakt dort, wo das Orchester spielt.

Mahnende Aufführungen zum Klimagipfel auf sechs Kontinenten

Mit der Methode wurde für jedes größere Orchester der Welt eine Variante der (unsicheren) vier Jahreszeiten erstellt. Zu Beginn der Klimakonferenz und des Tages der Jugend wurden die Darbietungen der (unsicheren) Vier Jahreszeiten von 14 Orchestern aus sechs Kontinenten – die Hälfte davon Jugendorchester – veröffentlicht. Mit den Auftritten erheben die jungen Menschen die musikalischen Stimmen für den Klimaschutz, um den Verlust der biologischen Vielfalt bis zum 2030 umzukehren. Mit dabei waren:

  • San José – Costa Rica’s New Orchestra
  • Bremen – Kammerensemble Konsonanz
  • Sydney – Sydney Symphony Orchestra
  • Nairobi – National Youth Orchestra of Kenya
  • Saskatoon – Saskatoon Symphony Orchestra
  • Majuro – Slovenian National Youth Orchestra
  • Amsterdam – Radio Filharmonisch Orkest Niederlande
  • Seoul – The [uncertain] Four Seasons Orchestra Hyekyeong Kim
  • Incheon – The [uncertain] Four Seasons Orchestra Hyekyeong Kim
  • Kapstadt – Cape Town Philharmonic
  • Sao Paulo – Symphonic Orchestra of the University of São Paulo
  • Venice – European Union Youth Orchestra
  • Hamburg – Akademie des NDR Elbphilharmonie Orchester
  • Caracas – Orquesta Sinfónica Gran Mariscal de Ayacucho
  • Panama City – National Network of Youth Orchestras and Choirs of Panama
Akademisten des NDR Elbphilharmonie Orchesters spielen Vivaldis „Herbst“ | Foto: Shutterstock von Sepp photography

Von impulsiven Jahreszeiten zur gnadenlosen Trostlosigkeit

Um die Klimaveränderung hörbar zu machen, haben diese Orchester das Werk von Vivaldi in einer modifizierten Bearbeitung aufgenommen. Während die Ursprungsversion etwa der Herbst ein strahlend schönes und stürmisches Fest vor der Erntezeit ist, klingt der Herbst auf den Malediven – eingespielt vom NDR Elbphilharmonie Orchester – trostlos, kaum wiederzuerkennen. Ein Symbol für die nicht mehr revidierbare Zerstörung der Erde. Was nicht mehr lebt, kann man nicht mehr hören. So wird die indes verklärte musikalische Anmutung der Originalpartitur in die ungeschönte Wahrheit übersetzt.

Orchester zeigen Flagge und nehmen Entscheider in die Verantwortung

Reflektiert wird damit, dass der Zustand der Umwelt das Resultat dessen ist, dass wir uns unserer Umwelt seit der industriellen Revolution nur noch durch eine vermeintlich rationale, wachstums- und profitorientierte Brille nähern. Die Natur wehrt sich gegen die Ausbeutung; wer kann es ihr verdenken. Rund um den Globus zeigt der Klimawandel seine unschöne Fratze in unterschiedlicher Ausprägung. In einigen Regionen haben die Stürme an Heftigkeit zugenommen. In anderen sind die Singvögel verstummt. Ganze Stadtteile werden von Fluten verschlungen, riesige Waldflächen von Bränden niedergewalzt.

Was wäre, wenn wir das künftige Klima hören könnten

Hingewiesen wird mit dem Projekt Uncertain Four Seasons auch auf die besondere Kraft der Musik, darauf, dass Musik anders als rein rationale oder eben irrationale Sprache Menschen zu erreichen imstande ist. Sie spricht und Menschen im tiefsten Inneren an. Und so wird die Musik zum hochwichtigen Baustein in der Kommunikation. Vor Hunderten von Jahren hatten wir einen solchen Bezug zur Natur, zur Umwelt, zur Erde und sämtlichen auf unserem Planeten vorhandenen Leben. Wir lebten in gefühlter Ursprünglichkeit.

Genauso emotional ursprünglich entsteht Musik. Wer noch immer keine entschiedenen Maßnahmen gegen den Klimawandel, das damit verbundene Artensterben und die Umweltkatastrophen einleitet, sollte einfach mal hinhören. Wenn die unterschiedlichsten Facetten der Natur nicht mehr zu hören sind, hört sich das definitiv mehr als bedrückend an.

Kontinentales Projekt als Aufruf an die Weltklimakonferenz

Transformiert wurde das Meisterwerk aus dem Jahr 1725 anhand aktuellster Klimadaten in das Jahr 2050 vom Komponisten Hugh Crosthwaite, dem Sydney Symphonic Orchestra und dem Climate Change Communication Research Hub der australischen Monash University. Das Projekt ist Teil der „ActNow“-Kampagne der Vereinten Nationen und eine Initiative der Digitalagentur AKQA und der Werbeagentur Jung von Matt. Die Agentur Jung von Matt begründete diese musikalische Initiative bereits im Jahr 2019. Das Projekt baut auf einem von Musikern des NDR Elbphilharmonie Orchesters und Alan Gilbert erstmals 2019 in der Hamburger Elbphilharmonie vorgestellten Konzept auf.

Neben den bereits durchgeführten Konzerten und Aufnahmen im Vorfeld sowie während der Klimakonferenz, entsteht beispielsweise aktuell auch ein Kurzfilm, der die Musik „The (Uncertain) Four Seasons“ mit animierten Illustrationen verbindet und so den prognostizierten Klimawandel hör- und sichtbar machen soll. Öffentlich präsentiert werden soll der Kurzfilm im Frühjahr 2022. Wir werden berichten.

Virtuose Spieltechniken als bildender Fundus für Nachwuchskünstler

Antonio Vivaldi selbst war virtuoser Geiger. Seine Erfahrung ermöglichte ihm auch den Zugriff auf außergewöhnliche und effektvolle Spieltechniken. Diese Techniken ließ er auch bei der Imitation von sanften Winden, heftigen Stürmen, trällernden Vogelstimmen und vielen mehr mit einfließen. Der Konzertzyklus der vier Jahreszeiten bietet auch für Nachwuchskünstler einen immensen Fundus, sich auf dem Instrument zu meisthaft fortzubilden:

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