Pionierin Ulrike Wohlwender strahlt: „Wir sind in Europa die ersten. 140 Jahre lang hatten wir genormte Klaviaturen für Flügel und Klaviere – jetzt kommt endlich Bewegung in den Klavierbau.“ Hinter ihr auf der Bühne des Orchesterprobenraums steht der allseits beliebte Rolls Royce der Klaviermusik: Der große Steinway-D-Konzertflügel mit einer Länge von 2,74 Metern. Er sieht ganz unauffällig aus, wie er so dasteht, die Klaviatur ist aber eine Sonderanfertigung des Remscheider Klaviaturenherstellers Kluge GmbH für Steinway & Sons, die es in sich hat: Das Instrument besitzt 1 bis 1,7 Millimeter schmalere Klaviertasten als ein üblicher Konzertflügel und macht damit für viele Menschen einen gewaltigen Unterschied. Denn 87 Prozent aller Pianistinnen und 24 Prozent aller Pianisten, von Kindern ganz zu schweigen, sind von der seit 1880 genormten Klaviatur benachteiligt.
Check it: Schmalere Tasten für Klaviere und Flügel
- Klaviertasten haben seit dem 19. Jahrhundert die gleiche Breite
- Menschen mit kleineren Händen können dadurch große Akkorde schwer greifen
- An US-Universitäten gibt es schon Instrumente mit schmaleren Tasten
- Jetzt kommt der Trend auch nach Europa
- Für Pianisten eröffnen sich damit neue künstlerische Möglichkeiten
Daher hat Klavierpädagogik-Professorin Wohlwender allen Grund stolz zu sein: Ist es doch ihrer Ausdauer und Hartnäckigkeit zu verdanken, dass die Zukunftsinitiative „Sirius 6.0“ der Stuttgarter Musikhochschule es nach vierjähriger Testphase nun geschafft hat, mittels Crowdfunding die 30.000 Euro teure Wechselklaviatur für den großen Steinway anfertigen zu lassen. Die Initiative widmet sich seit 2020 der Verbreitung und Weiterentwicklung von Klaviaturen mit schmaleren Tasten. Prototyp Sirius 6.0 war 2020 der erste Flügel an einer europäischen Musikhochschule mit einer 6.0-inch-Klaviatur. Der Yamaha-Stutzflügel mit einer optimierten 6.0-Klaviatur von Laukhuff lässt Hände um zwölf Millimeter pro Oktave „wachsen“. Seit Mitte Februar 2024 gibt es die Sirius 6.0-Wechselklaviatur in Stuttgart auch für den Steinway Konzertflügel. Während an Universitäten in den USA und Australien 6.0-und 5.5-Klaviaturen bereits seit Jahren im Einsatz sind, ging dieser Trend um schmalere Klaviertasten bis 2020 an Europa vorbei. „Wir haben es jetzt aus dem Überaum aufs Konzertpodium geschafft und eröffnen damit eine ganz neue, künstlerische Dimension“, freut sich Wohlwender.
„Überall stoßen wir auf große Neugierde, Offenheit, auf große Betroffenheit und auf große Hoffnung: Endlich auch Nonen oder Dezimen spielen können! Sirius 6.0 ist serious. Mit dieser maßgeschneiderten Sonderanfertigung wollen wir Modellprojekt für andere Hochschulen und für Konzertpodien sein. Unser Gedanke: Wenn es hier geht, geht es in jedem Konzertsaal. In Zukunft können wir bei Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern mit kleinen Händen viele schmerzhafte Überlastungssyndrome vermeiden.“ Auch Axel Köhler, Rektor der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, freut sich über schmalere Klaviertasten und nennt sie einen „Meilenstein der pianistischen Chancengleichheit.“
Kleinere Geigen für Kinder gibt es schon länger
Wer die Begeisterung über schmalere Klaviertasten verstehen will, muss nur vergleichen, wie unterschiedlich kindliche Streicher- und Klavierschüler lernen. Während es Achtel-Violinen und kleinste Celli für den kindlichen Nachwuchs gibt, mühen sich Tastenschüler auf einem riesigen Instrument ab und können, obwohl vielleicht hochbegabt, Brahms, Schumann und Rachmaninow nur spielen, wenn die Finger lang und die Handteller breit genug sind. Betroffene spüren ihre Hände auf schmaleren Tasten völlig neu, können sie viel feiner steuern und extreme Gelenkwinkel vermeiden.
Obwohl der Konzertflügel von außen unspektakulär wirkt, birgt sein Innenleben nichts Geringeres als eine pianistische Revolution. Lukas Saalfrank, jetzt 28 Jahre alt, der im zweiten Semester im Master Instrumentalpädagogik bei Wohlwender studiert, gibt Einblicke: „Ich habe für einen Mann vergleichsweise kleine Hände, die Spannweite ist unter dem Durchschnitt. Ich kann zwar eine kleine Dezime greifen, aber wenn es um eine große Dezime geht, dann hört es bei mir auf. Die meisten Männer können das. Natürlich denke ich da an Kinder und Jugendliche. Wie klein die Hände auf dieser großen Klaviatur aussehen!“
Das „Album für die Jugend“, von Robert Schumann einst für seine Tochter Marie geschrieben, sei an weitgriffigen Stellen für heutige Schüler schwieriger, erläutert Saalfrank. „Zu Schumanns Zeiten waren die Klaviaturen schmaler. Ich habe mir die Frage gestellt: Auf welchem Instrument hat er das Album eigentlich komponiert? Wie breit waren damals die Tasten?“ Er wird an der brandneuen Sirius 6.0-Klaviatur gleich Johannes Brahms bekanntes Intermezzo „Andante teneramente“ op. 118 Nr. 2 vortragen: „Brahms erfordert sonst immer so weite Griffe. Jetzt kann ich meine Interpretation ohne Arpeggien spielen,“ verrät der Student kurz vor seinem Auftritt.
Professorin Wohlwenders Recherchen gehen weit zurück. Jahrelang hat sie mit dem Musikermediziner und Musikphysiologen Christoph Wagner Handforschungen betrieben: „Bei Celli, Bratschen und Violinen kann man beim Geigenbauer zwischen verschiedenen Größen wählen, je nach Handgröße. Auch Holzblasinstrumentalisten können die Klappen versetzen lassen. Nur wir Pianisten und Pianistinnen können nicht wählen.“ Diese Ungerechtigkeit habe dramatische Folgen. „Es ist schon auffallend, dass bei den großen internationalen Klavier-Wettbewerben Männer viermal häufiger die Preise gewinnen.“ Sie verrät, was nur Insider wissen: Selbst der berühmte Dirigent und Pianist Daniel Barenboim spiele auf einer sechs bis sieben Millimeter pro Oktave schmaleren Klaviatur, hänge das aber nicht an die große Glocke.
Schmalere Klaviertasten: Warum Klaviertasten überhaupt immer breiter wurden
Warum die Klaviaturen in Deutschland seit 1800 immer stärker gewachsen seien, erklärt sie so: Die Oktaven zwischen 1800 und 1880 seien durchschnittlich circa sechs Millimeter breiter geworden. Sie vermutet, dass einerseits breitere Dämpfer und dickere Saiten für immer klangvollere Flügel die Ursache gewesen sein könnten. Auf ein weiteres Indiz sei sie gestoßen, als sie 2004 zusammen mit Christoph Wagner nach Weimar gefahren ist, um die Gipshand des großen Pianisten und Komponisten Franz Liszt (1811-1886) zu vermessen.
Liszts breiter Mittelfinger dürfte sich zwischen den Obertasten der frühen schmaltastigeren Hammerflügel kaum wohlgefühlt haben. Unbestritten sei, dass die Norm seither für große europäische Männerhände perfekt sei, „aber nicht für Frauen, Asiaten, Asiatinnen und Menschen mit mittleren und kleineren Spannbreiten.“ Wohlwenders Inspirator Christoph Wagner ist 2013 verstorben. Kurz vor seinem Tod habe sie sich noch viele Notizen gemacht, die sie vor dem Konzert zur Europapremiere hervorgekramt hat: „Es ist schon toll, dass vieles von dem passiert ist, was wir damals besprachen.“ Donnernder Applaus überbrückt ihre Rührung.
Zeit genug, um durchzuatmen und dann ihre wichtigste Mitstreiterin Silvia Molan vorzustellen, die sie von Anfang an unterstützte – erst als Masterstudentin, später als „Kollegin, die viel konzertiert“ -, und die nicht nur den Instagram-Channel der „Sirius 6.0“- Initiative betreut, sondern auch für die weltweite Vernetzung zuständig ist. „Ohne sie wären wir gar nicht da, wo wir heute sind,“ stellt Wohlwender fest. Silvia Molan ist Brasilianerin, hat ihren Bachelor auch dort absolviert und später ein Jahr in Paris studiert. Mit einem DAAD-Stipendium kam sie für den Master nach Karlsruhe und hängte bei Wohlwender in Stuttgart noch ein zweites Master-Studium der Klavierpädagogik dran. „2021 durfte ich erstmals den kleineren Yamaha-Stutzflügel mit 1,49 Metern mit ‚Sirius 6.0‘- Klaviatur spielen. Ich war sehr überrascht, dass sich für mich so viel geändert hat, obwohl ich gar nicht so kleine Hände habe.“
Schmalere Klaviertasten: Plötzlich wurde alles viel einfacher
Jedes Mal, wenn sie an Sirius 6.0 übte, habe sich dieser „Wow“-Effekt verstärkt“, schwärmt sie. „Ich studierte damals Carnaval op. 9 von Robert Schumann. Der Anfang ist voller Akkorde, bei denen man ungeheuer schnell von schwarzen auf weiße Tasten wechseln muss, alles in Oktavgriffen. Die Hand muss dabei gespreizt werden und das geht zu Lasten der Schnelligkeit und der klanglichen Feinheiten. Plötzlich wurde alles so viel einfacher. Gewohnte Handpositionen werden auf der Sirius 6.0 Klaviatur immer stärker gelockert. Als ich danach wieder auf einem Normflügel gespielt habe, dachte ich: „Ist das nicht unfair? Wieso muss ich weiter auf einer zu großen Klaviatur spielen, wenn es doch jetzt eine kleinere gibt?“
Und wie ist es für sie jetzt auf dem großen Steinway-D-Konzertflügel? „Gar kein Vergleich!“, schwärmt Molan, die natürlich die Erste ist, die ihre Finger mit Heitor Villa-Lobos‘ 1936 komponierten Impressões Seresteiras auf der neuen Klaviatur tanzen lassen darf. Vorher gesteht sie begeistert: „Ich muss nicht arpeggieren, tue es aber trotzdem, weil es schöner klingt. Auch die Oktavgriffe sind einfacher und rhythmisch präziser anspielbar.“
Welche europaweiten Kreise Wohlwenders Initiative mittlerweile zieht, lässt sich an der zahlreich angereisten Professoren-Prominenz ablesen. Da ist zum einen Annette Seiler, Fachbereichsleiterin für Tasteninstrumente und Korrepetition am Tiroler Landeskonservatorium Innsbruck in Österreich, wo sie seit 1997 als Professorin für Klavier, Klaviervokalbegleitung und Liedgestaltung lehrt. Auch sie ist von Anfang an eine Weggefährtin Wohlwenders – und freut sich für ihre Studentinnen und Studenten. „Wir sind jetzt mit jeweils einer Kollegin vom Mozarteum Innsbruck und vom Mozarteum Salzburg samt einer Gruppe von Studierenden gekommen. Wir werden wahrscheinlich die nächsten und damit die ersten in Österreich sein, die einen vergleichbaren Flügel bekommen. Da laufen gerade die letzten finanziellen Verhandlungen. Morgen dürfen wir den Stuttgarter Flügel ausprobieren.“
Was Ulrike Wohlwender betrifft, ist Seiler voll des Lobes: „Sie denkt immer ‚open source‘ und nicht nur an ihren persönlichen Erfolg oder nur an die Stuttgarter Hochschule. Vielmehr hat sie einen wissenschaftlichen Ansatz und möchte ihre Erkenntnisse der weltweiten Community zur Verfügung stellen. Erst dadurch hat das Ganze eine so große Dimension angenommen.“ Eine der bedeutendsten Leistungen Wohlwenders sei, dass sie es zusammen mit ihrem Nürnberger Kollegen Prof. Ulrich Hench geschafft habe, Klavierbaufirmen mit an Bord zu holen: „Fast alle bekannten Marken nutzen Kluge Klaviaturen, und sie hat es geschafft, dass Klavierbauer bei Kluge jetzt „Sirius 6.0″-Klaviaturen mit schmaleren Tasten bestellen können – ein Riesenschritt. Diese können von einem handwerklich guten Klavierbauer in Flügel oder Klaviere eingebaut werden. Und inzwischen sind Klavierbaufirmen wie das Familienunternehmen ‚Steingraeber‘ in Bayreuth so weit, dass sie einen fix- und fertigen Flügel mit Wechselklaviatur anbieten.“
Unter der Leitung von Prof. Ulrich Hench hat sich die Nürnberger Musikhochschule als erstes der Stuttgarter Zukunftsinitiative Sirius 6.0 angeschlossen und einen „Steinway-M-Flügel“ von Steingraeber restaurieren und mit einer „Sirius 6.0“-Klaviatur ausstatten lassen. Zwei weitere Nürnberger Professoren greifen bei der Premiere beherzt in die schmaleren Tasten. Wolfgang Manz wagt sich mit Franz Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 6 an das schwierigste Werk des Abends, während Aurelia Vișovan bei Debussys „L’isle joyeuse“ brilliert. Auch wenn die vielen Studentinnen und Studenten spielen, ahnt man, was sich in den Gesprächsrunden bestätigt: Ihr pianistischer Klang gelingt deutlich gesünder, präziser und virtuoser. Fazit: Nach 150 Jahren können auch kleine und große Menschen, die keine wuchtigen Männerhände haben wie einst Franz Liszt, seine anspruchsvollen Werke mit derselben Leichtigkeit und Eleganz interpretieren wie er selbst.
Tipp: Wer eine kleine Auffrischung zur Konstruktion und Funktionsweise des Klaviers sucht, sollte unseren Artikel dazu lesen!