Musik als störend wird empfunden, weil sie mit Geräusch verbunden. Das relativiert sich laut einer Studie insbesondere beim Leadgesang, der wird nämlich angeblich immer leiser. Durchaus verblüffend; wer hätte das gedacht, immerhin werden die Anlagen permanent leistungsfähiger. Mag sein, es geht um die richtige Perspektive zwischen flüsterleise und kreischend laut.
Gefühlt hatten wir eigentlich das Gegenteil angenommen
Anallysiert hatten Forscher der Universität Oldenburg mehr als 700 Songs aus ebenso verschiedenen Zeiten der Musikkultur als auch unterschiedlichen Genres. Im Fokus stand dabei insbesondere die Lead-Gesangsstimme. Und die ist in den vergangenen Jahrzehnten anscheinend deutlich leiser geworden. Während beispielsweise der King of Rock’n’Roll Elvis Presley – so die Studienergebnisse – noch unmissverständlich laut zu hören war, habe sich das bis zur Musik der heutigen Tage massiv verschoben.


Auf der Suche nach Aufklärung im Zuge von Mega-Lautstärken
Uns Musikern erschließt sich das nicht auf Anhieb. Aber wir suchen nach Aufklärung. Immerhin gab es damals keine PA, sondern allenfalls Gesangsanlagen, mit denen sich weder Presley noch die Beatles oder Rolling Stones gegen die kreischende Publikumsmeute durchsetzen konnten. Heutzutage hingegen fegen die Anlagen und geflogenen Array-Boxen den Konzertgängern bei Bedarf mit einer Intensität locker mal die Ohren weg, die notfalls einem startenden Urlaubsflieger gleicht. Wie kann der Gesang aktuell also leiser sein als noch vor Jahrzehnten?

Es bleibt eine Frage der Bewertungskriterien
Nun, offensichtlich müssen wir zunächst einen Blick – oder ein Ohr? – auf die Bewertungskriterien werfen. Denn offensichtlich geht es nicht um die real absolute Lautstärke im Gesamtergebnis, sondern um das relative Verhältnis des Gesangs zu den Begleitinstrumenten. Und dabei wurde festgestellt, dass der Gesang im Jahr 1946 noch fünf Dezibel lauter als die Instrument war, der Unterschied im Jahr 1975 lediglich noch rund ein Dezibel betrug und das Verhältnis seither kaum noch verändert wurde.


„Ich kann mich nicht hören.“ – „Sei froh!“
Okay, so wird ein passenderer Schuh draus, allerdings ist das noch immer geradezu erstaunlich. Zunächst stellt sich die Frage, welche Szenarien ausgewertet wurden. Waren das Tonträgeraufnahmen oder Live-Konzerte? Der Proberaum war’s ganz sicher nicht. Da hört man die Gesangsakrobaten ohnehin nicht. Wir kennen doch alle den beschwerenden Spruch des Sängers: „Ich kann mich nicht hören.“ Und die lakonische Antwort der Band: „Sei froh!“ Also irgendwie konnte man den Gesang gegenüber brettharten Gitarren doch noch nie richtig hören.

Mit fortschrittlicher Technik wurde räumliches Mischen möglich
Tatsächlich steht das geänderte Verhältnis im unmittelbaren Zusammenhang mit der immer besser gewordenen Technik, insbesondere – da Tonträger miteinander verglichen wurden – der Aufnahmetechnik mit dem stereophonen Abmischen, mit dem die Instrumente sich räumlich verteilen ließen, somit mehr Platz für die Leadstimme machten und die darauf leiser gemacht werden konnte. Die ersten Stereoaufnahmen wurden zwar 1943 auf Tonband gemacht; die erste Stereoplatte gab’s 1954, aber ab da sollte es noch diverse Jahre dauern, bis die Technik sich durchsetzen konnte.


Metal-Sänger sind kurioserweise laut Studie am leisesten
Bonmot am Rande: Identifiziert wurde bei der Studie übrigens, dass der Gesang im Country am lautesten, aber im Metal am leisesten war und ist. Bei all dem Growlen, Screamen und mehr? Irre, da können wir uns doch alle mal genüsslich vorstellen, dem Metal-Frontman zu sagen: „Sorry, du schreist zu leise!“ Den entgeisterten Blick muss man dann einfach ertragen. Aber wir haben es ja nun begriffen: Es geht um die Relation des Gesangs zu den Instrumenten. Trotzdem schwer vorstellbar, oder?

Fragestellung zur These geht in die falsche Richtung
Okay, vielleicht ist eine solche Bemerkung irreführend bis unangebracht. Tatsächlich aber scheint eher die Fragestellung der Studie etwas in die verkehrte Richtung zu gehen. Immerhin geht es offensichtlich nicht darum, wo der Gesang besonders leise, sondern wo die Instrument besonders laut sind und damit die Lead-Vocals überdecken. Und ganz klar in den Fokus stellen müssen wir nicht die Gesamtlautstärke, stattdessen ausschließlich die Relation des Gesangs zu den Instrumenten im räumlichen Abbild und dessen Freistellung im Mix.

Klangästhetik nach amerikanischen Vorbild im Trend
Ebenso wichtig für das Verständnis der Thematik ist, dass sich beim Abmischen im Laufe der Zeit eine spezielle Klangästhetik entwickelt hat. So ist es typisch amerikanisch, den Gesang leiser zu drehen, aber zugleich für ein nuancenreich räumliches Bild im Gesamtmix zu sorgen. Hört man sich dagegen eine typische Mallorca- oder sonstige Schlagerproduktion an, stellt sich das in der Regel vollkommen anders, geradezu konträr dar. Doch auch hier ist die Welt im Wandel. Produzenten setzen inzwischen genreübergreifend und zeitgemäß auf hervorragende Transparenz. Der Trend hat längst an Fahrt aufgenommen. Hier geht’s zur Studie.
Ein paar Infos von Nikolai zum Mischen von Leadgesang
Was Jörn in seinem Artikel beschreibt, hat alles Hand und Fuß. Ja, die Leadvocals sind immer leiser geworden, das zeigt ja auch die Studie. Aus eigener Erfahrung kann ich aber noch ein bisschen tiefere Einblicke in aktuelle Musikproduktionen geben. Denn in den letzten Jahren habe ich einige Pop-Songs produziert und auch gemischt, die von Plattenfirmen auf allen Streaming-Portalen veröffentlicht wurden.
Viele Verlage und Plattenfirmen haben die aktuelle Situation im Blick, wie Musik heute konsumiert wird und erwarten einen entsprechenden Mix. Denn die Zeiten, in denen in jedem Kinder- oder Wohnzimmer eine Stereoanlage stand – auch, wenn sie das Prädikat Hi-Fi vielleicht oftmals nicht verdiente – sind lang vorbei.
Die Masse hört auf dem Smartphone! Und diese Geräte übertragen vor allem die Mittenfrequenzen sehr betont. Was passiert nun, wenn die Stimme lauter gemischt wird? Ganz einfach: Die Musik geht unter, man hört nur noch die Vocals.
Wenn man einen Mix haben will, der auch auf solchen Geräten funktioniert und bei dem die Vocals in die Musik eingebettet sind, muss der Gesang einfach etwas leiser sein. Schon klingt es wie aus einem Guss. Und da das menschliche Gehör Frequenzen zwischen 500 und 4.000 Hertz besonders gut wahrnimmt, funktionieren solche Mixe auch bei einer qualitativ besseren Anlage immer noch.
Es hat also längst nicht nur mit Geschmack zu tun, sondern ganz viel auch mit aktueller Technik und Hörgewohnheiten, wenn die Leadvocals inzwischen leiser sind als früher. Mein Tipp für alle, die ihre Musik selber abmischen: Hört eure Musik ganz, ganz leise. Dann merkt ihr schnell, ob die Vocals hervorstechen oder ob ihr einen ausgewogenen und aktuellen Mix produziert habt.
Nikolai Kaeßmann
Chefredakteur musikmachen.de
Wie geht’s euch; könnt ihr Sänger euch hören oder könnt ihr Instrumentalisten euren Sänger hören? Wir sind gespannt auf die Kommentare.
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